Robert hingegen lebt diese ganze Fülle, erfährt sie mit seinen Sinnen, nimmt sie in sein Gedächtnis auf.
Während nichts in seinen Briefen anklingen lässt, ob ihre Briefe ihn erreicht haben.
Als ob Jane am falschen Ende eines Teleskops sitzt, von Roberts Seite nur einen winzigen, kaum erkennbaren Ausschnitt zu sehen bekommt.
Ein Teleskop, das länger und länger wird, mit jedem Monat, der verstreicht.
Sie liest den Kindern aus diesen Briefen vor, brav hören sie zu.
Kurz blitzt auch Neugierde auf ihren Gesichtern auf und in ihren Augen, bevor sie wieder erlischt. All die kleinen und größeren Dinge in ihrem Kinderleben verdrängen Robert langsam aus Helens Gedächtnis, und John hat ohnehin keine Erinnerung an ihn.
Wie eine Witwe fühlt sich Jane.
Eine Witwe, die das Andenken an ihren Mann verzweifelt lebendig zu halten versucht. Nicht einmal mehr die Jacken, die er zurückgelassen hat, riechen noch nach ihm. Unter dem Geruch von Stoff, der regelmäßig gelüftet wird, und dem Lavendelduft des Kleiderschranks ist nichts übrig geblieben von Roberts Geruch nach Pflanzensaft, Erde und dem Schweiß ehrlicher Arbeit.
Sie weiß nicht, was sie jetzt tun soll. In dieser Zeit ohne Robert, die fast schon hätte vorbei sein sollen und sich jetzt in die Unendlichkeit erstreckt.
Obwohl sie nicht sein will wie die alten Weiber früher im Dorf mit ihren Schauergeschichten, muss sie an Feen denken, die Kinder aus ihren Bettchen entführen und ein Feenbalg an seiner statt hineinlegen. An Kelpies, die kräftigen und machtvollen Pferdegeister, die Menschen in die Tiefen von Flüssen und Seen ziehen, und an Ungeheuer wie Mhorag, das Jagd auf Menschen macht, die sich in seine Gewässer wagen.
China hat ihren Mann verschlungen, das kann sie fühlen.
Der Lotosesser
(Nelumbium speciosum)
Lotos, Blatt. Entfremdete Liebe.
Lotos, Blüte. Widerruf.
Flora Greensleeves, The Language of Flowers, London, 1837
Keiner von denen, die die honigsüße Frucht des Lotos aßen, hatten noch den Wunsch, die Kunde zu überbringen oder zurückzukehren. Sie entschieden, bei den Lotosessern zu bleiben, um stets weiter vom Lotos zu kosten und den Weg nach Hause zu vergessen.
Homer, Odyssee, 7. Jahrhundert v. Chr.
47
Anhui, November 1844
Ein Gebiet namens Kiangnan (?), an den Ausläufern des Gebirges von Wangshan (?), am Fuße eines Berges namens Sung Lo.
Das Klima ist angenehmer, als es die Temperaturen zwischen 39 und 55 Grad Fahrenheit vermuten lassen, obwohl es häufig regnet. Im Winter soll es hier nicht einmal schneien, nur oben auf den Bergen vereinzelt, und das bis weit in den März hinein.
Wie eine Reise zurück in die Zeit war es von Ningbo hierher, hinein in die Vergangenheit, teils auf dem Fluss, teils über Land. In einem mehr als unkomfortablen Ochsenkarren, mit zahlreichen Eindrücken, die mich noch immer beschäftigt halten, nicht allein der Tag in einer Manufaktur für Tee.
Es ist schwer, hier nicht vollständig das Zeitgefühl zu verlieren. Den Bezug zur Wirklichkeit, wie ich sie kenne.
In dieser Gegend, die von der Zeit unberührt scheint, seit Jahrhunderten oder noch länger.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Ewigkeit.
Auf keine andere Weise ließ sich diese Gegend beschreiben.
Berge, die keine massigen, erdrückenden Steinwände waren, sondern von den Händen des Regens und des Windes zu schroffen Klippen, zu Zähnen und Nadeln geschnitzt. Weich gezeichnet von Wolken und Nebel, vom buttrigen Licht des frühen Morgens, dem blauen Hauch des Abends.
Eine Landschaft, in der eine Kultur gezeugt und geboren worden war. In der eine bestimmte Lebensart wurzelte, überspült vom Fluss der Zeit und in seinen Wassern nur geschliffen, nie verändert.
Wo Armeen alter Mächte aufeinandergestoßen waren, Schlachten geschlagen hatten und doch nie auch nur mehr als einen Fingerabdruck hinterlassen konnten.
Eine reiche Quelle für Legenden.
Ein Geburtsort für Götter.
Sogar ein Mann wie Fortune konnte das nachempfinden.
Wie zu Zeiten ihrer Ahnen und Urahnen schienen auch die Menschen hier zu leben. In Häusern aus hellem, angegrautem Stein, die sich an Flussbänken zusammendrängten, sich an Berghängen aufeinandertürmten und aneinander festklammerten. Nicht einmal die grauschuppigen Dächer, die sich versetzt aufeinander stapelten, ließen Rückschlüsse darauf zu, wo ein Haus aufhörte und ein anderes begann.
So auch das Haus der Familie Wang, das sich waghalsig an einen Felsvorsprung krallte. Fortune schätzte seine gesamte Ausdehnung auf vielleicht tausend Fuß im Quadrat, genau wusste er es nicht.
Wang hatte ihn zwar dazu aufgefordert, sich überall gründlich umzusehen. Doch an allzu vielen Türöffnungen, hinter notdürftig mit Tüchern abgeteilten Winkeln hatte er sich rasch wieder abgewandt, noch bevor man ihn lachend und mit wedelnden Gesten bat, wieder zu gehen.
Weil er dahinter einen Greis erspäht hatte, der auf einer Lagerstatt vor sich hindämmerte, vor Alter, im Fieber oder schon im Sterben. Familien, die gerade über ihrer Mahlzeit saßen und verwundert aufblickten. Eine junge Frau, ihr Kind an der Brust.
Unvorstellbar viele Menschen gab es in diesem Haus, in dem Wang begrüßt worden war wie der sprichwörtliche verlorene Sohn. Männer, Frauen, Kinder jeden Alters, die hier lebten, Stoffe webten, Schnitzereien anfertigten, Mahlzeiten zubereiteten, spielten, stritten, schliefen.
Gesichter, die Fortune fast täglich begegneten, dazwischen ständig neue und andere, die er nur einmal sah und dann nie wieder.
Er wusste auch nicht, ob es sich dabei um die gesamte Familie Wang handelte oder um mehrere Familien, deren Mitglieder Wang einfach als Onkel, Tante, Schwester, Bruder, Neffe, Nichte, Großmütterchen oder Großväterchen anredete, weil es Brauch war.
Wann immer es das Wetter zuließ, floh er vor der Enge dieses Hauses.
Vor dem Qualm, der innerhalb der Mauern stand, ihm in den Augen biss und die Lungen füllte, wenn auf allen Feuerstellen des Hauses zur selben Zeit Essen gekocht wurde. Um sich der überbordenden Freundlichkeit und Neugierde der Hausbewohner zu entziehen, die wissen wollten, woher im Reich Xinghua-Fortune, kam. Wie es dort aussah, was man dort aß, wie viele Frauen und Kinder er hatte. Wo seine Reise ihn überall vorbeigeführt und was er dort gesehen und erlebt hatte.
Vor dem einfachen Lattenwerk vor den Fenstern floh er, das zwar die Vögel draußen hielt, aber nicht die Fliegen und anderes Ungeziefer.
Vor den Kindern, die sich furchtsam, mit großen Augen hinter ihre Mutter drückten oder so schnell davonliefen, wie es ihre Beinchen erlaubten. Mehr noch vor den Kindern, die ihn unverhohlen neugierig anstarrten, mit ihren klebrigen Händen seine Finger zu fassen versuchten, ihm sogar auf den Schoß klettern wollten. Kinder, die ihn mit ihren Blicken, ihren Gesten an Helen und John erinnerten und damit jedes Mal eine Narbe in seiner Brust aufrissen.
Zuflucht suchte er in den Wäldern, die dunkel waren, nur vereinzelt von den Fackeln herbstlicher Laubbäume erhellt. So dicht, dass er sich seine Pfade hindurch erkämpfen musste und oft genug auch dazu gezwungen wurde, wieder umzukehren.
Über den Markt streifte er dann, wo er von einer roten Pfefferschote kostete, die seinen Mund in Brand steckte. Und von einer Frucht, die aufgeschnitten mit ihrem feinen Strahlenkranz aussah wie die hellgrüne Iris eines menschlichen Auges, ihr weißer Kern eine blicklose Pupille. Sauer schmeckte sie, ähnlich einer Zitrusfrucht, nur weniger frisch, wie eine herbe Banane. Soweit er den Erläuterungen des Händlers folgen konnte, der ihm die Kletterpflanze dazu beschrieb, musste es sich um eine Actinidia handeln.