Ich lerne viel, während ich die Tage in der warmen Stube, am Feuer, verbringe.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Wangs Vater, der ebenfalls auf den Namen Wang hörte, machte großen Eindruck auf Fortune.
Das haselnussbraune Gesicht verwittert, der lange Zopf unter dem Käppchen bereits weiß gesträhnt, war er ein Mann von bodenständiger Lebensklugheit, die Fortune an seinen eigenen Vater erinnerte, jedoch ohne dessen Strenge, ohne seine herrische Art.
Auch sein reicher Erfahrungsschatz im Ackerbau erinnerte Fortune an seinen Vater, den Heckengärtner; ein Wissen, an dem Vater Wang ihn teilhaben ließ, an den langen Winterabenden, im Schein des Feuers.
Auch Wang schien seinem Vater gern zuzuhören. Aufmerksam und überraschend leise mischte er sich ein, wenn Fortune etwas nicht verstand und ratlos blickte oder er selbst etwas genauer wissen wollte.
Vor allem dem Tee schien das Herz von Wang senior zu gehören.
Es mochte der Wahrheit entsprechen, dass sich nur derjenige als Engländer fühlen konnte, der Tee trank. Für die Chinesen indes galt das schon seit Jahrtausenden. Das Wissen vom Tee schien an eine Philosophie zu grenzen, die eins war mit Chinas weit zurückreichender Geschichte und verwoben mit den Legenden von Göttern und Menschen.
Eine ganze Welt war es, vergangen und gegenwärtig, real und mythisch, die Vater Wang mit seinen Erzählungen für Fortune einfing, in einer Tasse Tee. Er hatte auch keine Scheu, dem fremden Gast von dem Unglück zu erzählen, das die Familie heimgesucht hatte. Ohne dabei mit dem Schicksal zu hadern, sondern gefasst, fast gelassen.
Die Bitternis, die du zu essen bekommst, macht einen Mann erst zu einem Mann, lautete eine seiner Weisheiten.
Reich waren die Wangs nie gewesen, hatten aber stets auf der bescheidenen Seite des Wohlstands gelebt, von ihrem Land, auf dem Reis und Tee wuchsen. Mehrere Missernten in Folge und die hohen Brautpreise für die Töchter jedoch hatten sämtliche Notgroschen aufgebraucht. Stück um Stück musste Wang senior seine Felder verkaufen, schließlich den größten Teil seines Hauses vermieten; nur ein einziges Teefeld war ihm geblieben. Zwischen den Säcken voll Reis, die überall an den Wänden lehnten, und den im Haus umherzuckelnden Hühnern, zeugten nur noch ein Küchenschrank, ein Stuhl aus Rattan und eine geschnitzte Holztruhe von besseren Zeiten.
Umso größere Hoffnungen setzte er in seine Söhne, allen voran Wang. Merklich stolz war er, dass sein Jüngster das Wagnis eingegangen war, in die Ferne hinauszuziehen, in die Städte entlang der Küste, um sein Glück zu machen.
Fortune war dankbar für die Gastfreundschaft, mit der die Wangs ihn aufnahmen, obwohl sie selbst so wenig hatten. Es beschämte ihn, dass er ihnen diese Großzügigkeit nicht vergelten konnte; die paar Silbermünzen, die ihm geblieben waren, wurden von Mutter Wang entrüstet, von Vater Wang mit warmherzigem Stolz zurückgewiesen.
Obwohl er aus einer Bauernfamilie stammte, hatte Wang senior die Schule besucht, die Dichtkunst studiert und für die Prüfungen eines kaiserlichen Beamten gelernt. Wie alle seine Söhne, bevor sie das Haus verließen, um wie ihr Vater zuvor auf den Feldern zu arbeiten oder ein Handwerk zu erlernen; die Mädchen hingegen waren von ihrer Mutter im Lesen und Schreiben unterrichtet worden.
Die Passion von Vater Wang war die Kalligrafie, was auch die Banner aus schwerem Papier erklärte, die mit ihren Schriftzeichen die Wände der bescheidenen Behausung schmückten. Als er hörte, dass Xinghua-Fortune die chinesische Schrift nicht beherrschte, schlug Vater Wang die Hände über dem Kopf zusammen und schickte seinen Sohn nach einer Art Fibel, Tinte und Papier.
Ohne dass Vater Wang oder sein Sohn es erwähnten, war Fortune bewusst, welche Ehre es bedeutete, in einer der Traditionen dieses Hauses unterwiesen zu werden.
Wang senior erwies sich als geduldiger Lehrer, Fortune als geduldiger Schüler – geduldiger als der junge Wang es je gewesen war, darin waren sich Vater und Sohn gutmütig lachend einig. Fortune hatte auch alle Zeit der Welt dafür, in diesem Winter in Anhui, wo es oft tagelang regnete.
Wie eine eigene Kunstform erschienen ihm diese Zeichen, weitaus mehr als nur ein Mittel zur schriftlichen Verständigung. Mehr als eine Methode, Zeugnis für die Nachwelt abzulegen.
Für seine westlichen Augen bestand jedes Wort, das mit Blumen zu tun hatte, aus zwei angedeutete Blüten, eine mit Stängel und Blatt, die andere mit einer langen Wurzel. Das Zeichen für Gärtner bekam zu der Blume noch eines dazu, das an das Werkzeug seines Berufsstandes erinnerte, und der Garten selbst war ein umfriedetes Stück Land, in dem sich Beete, Kieswege und Sträucher erahnen ließen.
Die fremdartige Komplexität wie bestechende Logik dieses Systems forderten Fortunes Verstand und Gedächtnis heraus. Und seine Geschicklichkeit; ohne den sicheren Halt einer aufgestützten Hand lernte er, den Pinsel mit frei beweglichem Handgelenk zu führen.
In Spalten von oben nach unten geschrieben, von rechts nach links, von hinten nach vorne durchgeblättert, stellte diese Schrift sein Denken auf den Kopf. Öffnete seinen Blick, den Horizont seiner Vorstellungskraft.
Manchmal sann er darüber nach, wie ähnlich dieser Landstrich hier seiner Heimat Schottland war: die Luft und der Regen und der Nebel. Die Farben der Landschaft und die Stimmungen des Tages.
Die Bauern, die sich auf ihren Feldern abmühten, die Steinmetze, die mit einfachsten Werkzeugen Stein aus dem Fels schlugen, und die Händler, die mit schweren Körben auf dem Kopf auf den schmalsten Pfaden bergan schnauften – jeder von ihnen hatte seinen ebenso hart arbeitenden Gegenpart in Schottland. Fortune konnte sich noch dunkel an die Zeiten erinnern, als Kleinbauern in einem winzigen Cottage zusammen mit ihrer Kuh und ihrem Schwein aßen und schliefen, genau wie er es hier in Anhui beobachtete.
Wie die Wangs gab es auch in Schottland genug Familien, die ohne eigenes Verschulden in die Armut abgeglitten waren und um ihr Überleben kämpften. Und dennoch wurden in diesen Familien Bücher gelesen, steckte man jeden Penny in die Schulbildung der Kinder, auch wenn man ihn vom Essen abzwackte oder die Joppe eben noch ein weiteres Jahr getragen werden musste.
Bildung war in Schottland das Brot von morgen. In Anhui war sie der Reis, der die Schüsseln der Kinder einmal füllen würde.
Wenn er Vater und Sohn Wang im Umgang miteinander beobachtete, nahm er starke Ähnlichkeiten wahr. Die Art, den Kopf schräg zu halten, wenn sie ihrem Gegenüber aufmerksam zuhörten. Sich beim Nachdenken gedankenvoll mit dem gekrümmten Mittelfinger an der Basis des Schädels kratzten oder mit dem Nagel des kleinen Fingers die Windungen der Ohrmuschel nachfuhren, in den unendlichen Schleifen einer Lemniskate.
Allerdings fiel Wangs Mimik ausdrucksstärker und lebhafter aus als die seines Vaters. Als hätte sich in ihm etwas geöffnet, in den fremden Städten und Landstrichen an der Küste, im Kontakt mit Menschen aus fernen und fernsten Ländern, deren Sprachen. Während Wang senior in seiner vertrauten, unveränderlichen Welt zwischen Reisfeldern und Bergen verhaftet geblieben war. Und so oft sich Vater und Sohn mit Blicken ihrer Einmütigkeit versicherten, so oft verrieten Blicke stummen Vorwurfs und wortloser Rechtfertigungen alte Spannungen, nie ganz beigelegte Unstimmigkeiten.
Fortune rechnete es Wang hoch an, dass er ihm das überaus großzügige Wohlwollen nicht neidete, das sein Vater ihm entgegenbrachte. Die Geduld und Nachsicht von Vater Wang, sein Lob für Fortunes Fortschritte in der Schreibkunst, das zuweilen in Triumph gipfelte, schienen zu bestätigen, dass auch in China meist die Kinder anderer Leute als begabter, vielversprechender, besser erzogen galten.
Ein Muster, das ihn an seinen eigenen Vater erinnerte.
Hier in China wurde Fortune sich der unsichtbaren Fäden bewusst, die Kinder an ihre Eltern banden. Fäden, die sich im Lauf der Jahre und Jahrzehnte länger und länger zogen. Sich in alle Richtungen dehnten, die der eingeschlagene Lebensweg nahm. Sich dabei straff spannten und dünner wurden, aber niemals abrissen. Selbst wenn der Sohn den Vater schon um Haupteslänge überragte, die einstmals stolze Eiche von Mann inzwischen gebeugt ging, nach einem Leben voll Knochenarbeit verwittert, etwas von der Kraft des Körpers und manchmal auch des Willens bereits ausgewaschen.