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Mein Blick wanderte von Chang, der triumphierend grinste, zu Chao, dessen Augen voller Bewunderung an Dong hingen, während er den Mund voll mit Reiskörnern und Hühnerfleisch hatte.

»Hsiu-ch’uan stammt von hier, aus Guangdong«, fuhr Dong fort. »Er schien dazu bestimmt, die Laufbahn eines kaiserlichen Beamten einzuschlagen. Doch ein ums andere Mal scheiterte er bei den Prüfungen, bis ihm untersagt wurde, es ein weiteres Mal zu versuchen. Hsiuch’uan wurde von einem rätselhaften Fieber befallen und lag im Delirium. Doch in dieser Finsternis erlangte er plötzlich eine ungeahnte Klarheit des Geistes, eine Erleuchtung der Seele. Er verstand, dass er durch diese Prüfungen hatte fallen müssen, weil er den falschen Weg gewählt hatte. Von Anfang an war er zu Höherem bestimmt gewesen. Sogar einen Fingerzeig hatte er bereits erhalten, ein Schriftstück, das ihm ein Kirchenmann des Westens ein Jahr zuvor überreicht hatte. Hsiu-ch’uan erkannte, dass er niemand Geringeres ist als der Sohn Gottes. Der jüngere Bruder von yesu jidu. Wie dieser ein Heilsbringer, von Gott, seinem Vater, nach China entsandt, um die Teufel aus dem Land zu vertreiben. Um Gottes Wort zu verkünden und das Königreich des Himmels hier zu errichten.«

Seine Stimme wurde heiser vor Erregung, und ein leidenschaftlicher Glanz überzog seine Augen.

»Ein großer Mann ist er, voller Weisheit und Güte und flammender Entschlossenheit. Unzählige Dämonen hat er bereits vertrieben. Die Mandschu werden die Nächsten sein, dann die fremden Barbaren. Hsiu-ch’uan wird China befreien und wieder groß machen. Zusammen mit uns allen, die wir ihm folgen. Zu einem Reich ohne Ungerechtigkeiten, ohne Hunger und Not wird unser China werden. In dem wir alle wie Brüder und Schwestern glücklich miteinander leben.«

Ein Bruch zog sich durch die polierte Oberfläche der Gedanken, die er vorgetragen hatte; eine scharfe Kante inmitten des sonst so geschmeidigen Wortflusses.

»Ihr folgt einem fremden Gott? Dem Gott, den die Barbaren mitgebracht haben – um dann diese Barbaren zu vertreiben? Eure Glaubensbrüder? Wie kann das sein?«

Der Glanz in Dongs Augen härtete aus, zu dunklem, unbeugsamem Stahl.

»Für Gott in seiner allumfassenden Weisheit und Güte sind wir alle seine Kinder, gleich welcher Hautfarbe. Es war sein Wille, dass wir durch die Barbaren sein Antlitz erblickt haben, das ist wahr. Aber sie haben sich längst schon von ihrem Glauben abgewandt. Alles, was sie tun, was sie sagen, was sie sind, ist gottlos und schändlich. Sie haben sich von ihrem Gott abgewandt, und nun ist er es, der sich von ihnen abgewandt hat. Wir sind jetzt das auserwählte Volk. Es ist Gottes Wille, dass wir sein Wort verteidigen. Seinen Glauben jeden einzelnen Tag leben und im Reich verbreiten. Auch wenn es dafür nötig sein wird, alle Abtrünnigen zu vernichten.«

Ich schlug die Augen nieder. Dongs Erklärung konnte den Bruch nicht kitten, der sich für mich nach wie vor durch diese Gedanken zog. Sie in zwei Hälften spaltete, die in unversöhnlichem Widerspruch zueinander standen. Trotzdem schlug mein Herz schneller bei der Vorstellung, die Mandschu fallen zu sehen. Die fremden Barbaren aus dem Land zu jagen, gleich unter welchem Vorwand.

Bis ich an Fortune dachte und mein Herz einen Schlag versäumte.

Es waren seine Landsleute, über die Dong auf diese Weise sprach. Über die ich genauso dachte.

Konnte ein einziger Mensch so viel Gewicht haben wie Dutzende, Hunderte, vielleicht gar Tausende seines Volkes?

»Noch sind wir wenige«, hörte ich Dong sagen. »Aber wir werden bald mehr sein. Viele, viele mehr. Und je mehr wir sind, desto näher rückt der Tag, an dem wir China für immer verändern. Ein Paradies werden wir hier schaffen, für all die Menschenseelen des Landes.«

Ich erinnerte mich an die schmutzigen, zerrissenen Flugblätter auf der Gasse.

»Haben sie euch deshalb verprügelt?«, fragte ich leise. »Für eure Worte?«

»Die Menschen sind dumm. Selbst schwingen sie laute Reden von Veränderung und Umsturz – aber wehe, jemand kommt daher, der die Dinge zwar genauso sieht, sich jedoch nicht mit Worten allein begnügt. Der Taten folgen lassen will.«

Die Verächtlichkeit, die eben noch sauer aus seiner Stimme troff, schmolz dahin, und er schlug einen versöhnlicheren Ton an, fast nachsichtig.

»Ich kann es ihnen nicht verdenken. Zu lange mussten sie sich unter der Knute der Mandschu ducken. Zu lange hat man ihnen Furcht vor dem Himmelssohn und Gehorsam eingebläut Es wird noch einige Zeit und vor allem viel Geduld brauchen, um ihre Augen zu öffnen. Damit sie die Wahrheit erkennen und danach handeln. Selbst wenn wir sie dazu zwingen müssen. Oder selbst dafür sterben.«

Das Feuer, das zwischen seinen Worten aufloderte, beunruhigte mich; ich konnte nicht einschätzen, ob es noch Leidenschaft war oder schon Besessenheit.

Hatte ich recht gehandelt, vorhin auf der Gasse, als ich mich auf die Seite der drei Burschen gestellt hatte? Ich wusste es nicht mehr. Die Linie zwischen Recht und Unrecht, immer scharf, von immer unverrückbarer Klarheit, verschwamm vor meinen Augen.

Sie war mein einziger Halt gewesen, in all den Jahren, auf all meinen Wegen.

Ich spürte, wie Dong sich noch weiter über den Tisch lehnte, seine Augen auf mich geheftet; sogar sein Atem klang jetzt wie der eines Rotwolfs, der Witterung aufnimmt.

»Stell es dir doch nur vor«, raunte er. »Ein freies China. Frei von der Herrschaft der Mandschu. Frei von den habgierigen, hässlichen Barbaren. Ein Land, das in Frieden lebt und nichts als Gerechtigkeit kennt. In dem es keine Herren und Diener mehr gibt, sondern nur noch Brüder und Schwestern. Männer und Frauen, die die gleichen Rechte besitzen.«

So leise sprach er weiter, dass ich mich unwillkürlich nach vorn neigte, um ihn noch verstehen zu können. Dabei war seine Stimme alles andere als schwach; sondern eindringlich und mit so viel Gefühl aufgeladen, dass mir ein wohliger Schauer den Nacken hinabrieselte.

»Wir brauchen dich, unbekannte Heldin mit dem Schwert. Wir brauchen Frauen wie dich, die unsere Kunde an die Frauen des Landes weitertragen. Ihnen Mut machen, ihre Fesseln zu sprengen und sich uns anzuschließen. Wir brauchen dich für die Kämpfe, die uns bevorstehen. Um Männer wie Frauen anzuleiten, für Gerechtigkeit und Freiheit zu streiten. Ohne Frauen wie dich werden wir es nicht schaffen, dieses Land zu verändern und seine Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen.«

Zehn Jahre war ich durch das Land gezogen, um in den Wassern des Flusses des Westens, in dieser Stadt jenseits der Zeit, einem langmähnigen Burschen zu begegnen, der mit seinen Freunden die gleichen Sehnsüchte hegte wie ich. Im rußverschmierten Verschlag dieser Garküche, auf dem fettigen, von Essensresten verklebten Tisch entwarf Dong vor meinen Augen ein China, das ich mir insgeheim immer ersehnt hatte.

Ein freies Land, über dem allein der Gott der Gerechtigkeit herrschte. In dem Männer und Frauen gleich viel wert waren. Dafür zu kämpfen – davon hatte ich schon so lange geträumt. Davon geträumt hatte ich, eines Tages mein Wissen weiterzugeben. Eine Meisterin zu sein wie Ng Mui einst, vor so langer Zeit.

»Ich bitte dich – schließ dich uns an. Stell deine Fertigkeiten in den Dienst unserer Sache. Aus China ein Königreich des Himmels zu machen – lohnt es sich denn nicht, dafür zu kämpfen?«

Er war geschickt darin, Menschen zu umgarnen, das sah ich wohl, und für den Moment ließ ich es geschehen.

Zu groß war mein Sehnen in diesem Moment, irgendwo hinzugehören. Wieder Wurzeln zu schlagen zwischen Gleichgesinnten, auf einem gemeinsamen Weg, in einem gemeinsamen Ziel.

War es am Ende nicht gleich, welchen Namen man dem Gott gab, für den man stritt, und wo er herkam – solange es ein Gott der Gerechtigkeit war?

Alle meine Hoffnungen, alle meine Träume konnten wahr werden. Bald schon.

Ich brauchte nur Ja zu sagen.

Jane verzweifelt an ihrer neuen Aufgabe.

Obwohl Mr Lindley sich um Rücksicht bemüht, den Inhalt seiner Briefe langsam formuliert, damit sie mitkommt. Im Takt seiner gemächlichen Schritte, mit denen er den Schreibtisch in mal engeren, mal weiteren Kreisen umzirkelt. Auch die einleitenden und abschließenden Formulierungen, die er bald schon wieder gedankenlos herunterhaspelt, weil sie sich mehr oder weniger gleichen, kann Jane schnell mit Bleistift auf das Papier bannen.