Es gab zu viele Seiten in diesem Land. Zu viele Sichtweisen auf die Welt, auf Richtig und Falsch, zu viele Ansprüche an Geltung und Macht. Zu viele Wahrheiten und zu viele Arten, Gerechtigkeit zu verstehen.
Unsere Welt teilte sich schon lange nicht mehr in Yin und Yang: Der Strudel eines beginnenden Chaos hatte es ergriffen.
Zerrissen war mein Land, unter der Herrschaft der Mandschu. Unter den alten Nahtstellen zwischen Han und Hakka und endlos vielen anderen Völkern und Völkchen. Vielleicht war es schon zerrissen gewesen, bevor die fremden Barbaren kamen, und der Krieg, der stetige Zustrom an Männern des Westens, ihre Gier nach Geld und Macht waren nur die letzten Tröpfchen, die das Fass bald zum Überlaufen bringen würden.
Man musste nicht weit in die Ferne blicken, um die finsteren Wolken zu sehen, die sich wie Pulverqualm am Horizont zusammenballten und unter denen sich der Himmel färbte, rot wie Blut.
China war drauf und dran, sich selbst zu zerfleischen.
Und es gab nichts, was ich hätte tun können, um das aufzuhalten.
Trotz aller Umwege hatte mich mein Weg immer weiter in den Norden hinauf geführt. Wie ein Zugvogel, der sich auf Strömen von Wärme dort hoch gleiten lässt, ins Landesinnere hinein.
Ich hatte mich nicht für irgendeine Seite entschieden. Nicht für ein großes Ziel.
Ich hatte mich für die Freiheit entschieden, das zu tun, was ich für das Richtige hielt. Mochten die Folgen auch noch so weitreichend, noch so unabsehbar sein. Dafür entschieden hatte ich mich, das zu tun, was ich tun wollte. Mochte es auch selbstsüchtig sein, ich danach mit leeren Händen, einem leeren Herzen zurückbleiben. Dieses Wagnis musste ich eingehen. Niemandem sonst war ich das schuldig – außer mir selbst.
Und dann war ich in Anhui.
Nicht das Anhui, in dem ich großgeworden war und in das ich niemals mehr zurückkehren wollte. Sondern das auf der anderen Seite des Flusses, am südlichen Ufer.
Nicht das Anhui der weiten Ebenen mit Vieh und Getreide, wo der Himmel endlos war. Sondern ein Anhui der weichen Hügel und Täler, mit mächtigen Bergen und Feldern von Tee und Reis.
Die Luft war jedoch dieselbe; nach Flusswasser und schwerer Erde roch sie. Nach der Mühsal und den Unwägbarkeiten eines Lebens, das sich aus dem Ackerboden speiste und den Launen der Elemente unterworfen war. Nach schmalen Hoffnungen und kleinen Freuden.
Dieselbe Luft, die bei meinem ersten Schrei meine Lungen gefüllt hatte und in der ich eine viel zu kurze Kindheit verbrachte. Die ich jetzt wieder atmete, tief in meine Lungen sog, mehr als zwanzig Jahre später, oben auf einem Hügel, mit Blick auf das Land vor mir.
Erinnerungen überfluteten mich. An meine Mutter. Meinen Vater. Meine Brüder und Schwestern. An das gleichmäßige Muster der Tage im Jahreslauf, an glückliche Momente und traurige. Die Geräusche und Gerüche in unserem Häuschen, im Stall, auf den Feldern: von Ziegen, Schweinen und Hühnern und dem Wetzen der Sense, nach Mist und Dungfeuer. Nach dem ersten zarten Grün jungen Getreides in nasser Erde, dem Staub abgeernteter Felder in der Sonne des Spätsommers und nach Pilzen, die, auf Schnüren aufgefädelt, unter dem Dach trockneten. Der Geschmack von Eiertaschen mit Schweinefleisch und von der Suppe aus Fröschen, die mein ältester Bruder für uns fing.
Ich wäre ein anderer Mensch geworden, wäre ich geblieben.
Ich hätte ein anderer Mensch sein müssen, geprägt von dieser althergebrachten Art zu leben, von den Händen meiner Mutter nach dem Vorbild von Generationen von Mädchen und Frauen in Form geknetet. Trotzdem war etwas an mir so unnachgiebig gewesen, dass ich mich nicht länger biegen ließ, sondern ausbrach.
Und jetzt stand ich hier, auf diesem Hügel, als die, die ich heute war, und zögerte. In einer Art von Furcht, für die ich mich schämte, einer Art von Sehnsucht nach dem Zuhause, das ich einmal gehabt hatte. Nach dem Mädchen, das ich einmal gewesen war.
Größer jedoch und stärker war ein anderes Sehnen, das an mir zerrte. Ich gab mir einen Ruck und setzte meinen Weg fort, hin zu den Gelben Bergen, in Richtung des Sungloshan.
Inmitten der sanften Wellen von Silber und Grün bearbeitete ein Bauer seinen Gemüseacker. Ein noch junger Mann, das sah ich von Weitem, dem die Arbeit gut und flink von der Hand ging.
Ein kleiner Junge, nicht älter als vier Jahre, half ihm dabei, indem er die Steine aufsammelte, die über den Winter in den Ackerboden gewandert waren, und sie an den Rand des Feldes trug.
Wehmut machte sich in mir breit, hinterließ ihren bittersüßen Geschmack auf meiner Zunge: Als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ich diese Aufgabe auch von meinem nächstältesten Bruder übernommen.
»Verzeiht«, sprach ich den Bauern an, der den Kopf hob. Wie alle Bauern auf dem Feld trug er seinen langen Zopf zu einem Knoten gewunden.
Er war wirklich noch sehr jung, jünger als ich. In seine noch burschenhaft weichen Züge hatten Sonne und Wind jedoch bereits eine unzeitige Härte geritzt. Ich hatte vergessen, wie schnell die Menschen hier verwitterten.
»Ich suche die Familie von Wang, der lange Zeit auf Wanderschaft gewesen ist, in den Städten der Küste. Und den Fremden, der bei ihnen lebt. Xinghua. Ein Riese mit blauen Augen.«
Der Bauer richtete sich auf, rieb mit der freien Hand seinen unteren Rücken und nickte eifrig.
»Jaja, ich kenne die Familie. Auch den Fremden habe ich schon gesehen. Wenn er über die Felder läuft und sich nach jedem Grashalm bückt.«
Seine Worte, sein gutmütiges Lächeln ließen mich schmunzeln.
»Wenn Ihr den Pfad hier weitergeht …« Mit seiner verhornten, erdverkrusteten Hand wies er mir den Weg. »Jenseits des Waldes kommt ihr an ein Dorf. Die Wangs leben oben am Hang. Das zweite Haus ist es, glaube ich. Aber im Dorf kann man Euch sicher sagen, welches Haus es genau ist. Euch auch hinbringen, wenn Ihr wollt.«
»Habt vielen Dank.«
Ich verneigte mich vor ihm und fing einen Blick aus großen Kinderaugen auf.
»Hast du denn keine Angst?«, piepste der Junge, der zuvor mich und vor allem das Schwert auf meinem Rücken ehrfürchtig in Augenschein genommen hatte.
»Wovor?«
»Der Riese …« Er presste den Stein in seinen Händen an sich, wie zum Schutz. »Ich glaube, der beißt.«
Ich musste lächeln.
»Nein, keine Sorge. Ich kenne ihn, der beißt nicht. Ganz bestimmt nicht. – Er hat zu Hause auch einen kleinen Jungen. Einen Jungen wie dich«, setzte ich hinzu, obwohl es mir schwer ums Herz wurde dabei. »Und ein kleines Mädchen.«
Der Junge nickte. Wenig überzeugt, presste er den Stein nur umso fester an sich.
Wohin Fortune in diesem Land auch ging, wie er sich auch kleidete – er würde immer ein Fremder bleiben, der misstrauisch machte oder zumindest neugierig. Der Rätsel aufgab.
Das Lächeln blieb auf meinem Gesicht, als ich weiterging, meine Schritte leicht und wie auf Flügeln. Durch den Wald und auf das Dorf am Fuß des Sungloshan zu. Den hellen Häusern entgegen, die mich an mein Elternhaus erinnerten.
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53
Der Frühling flutete das Tal mit dem Duft der Teesträucher. Feucht, mineralisch, grasig und von einer belebenden Frische, lag er überall in der Luft.
Dieser Frühling in Anhui, der Fortune mit dem gelben Funkenregen von Forsythia viridissima beschenkte und gleich mit mehreren Arten von Viburnum: Schneebälle aus immer weißen, aber mal kleineren, mal größeren Blüten.
Wenn er nicht den Teebauern bei der Ernte über die Schulter schaute, streifte er über die Hügel und durch die Wälder. In der Hoffnung, etwas Neues für den kleinen Garten zu finden, den er auf dem Dachboden der Wangs angelegt hatte.
An diesem Tag hatte er Glück gehabt, ein unglaubliches, unwahrscheinliches Glück: Im Wald hatte er nicht nur die blaue Rebe der Wisteria sinensis wiedergefunden, die ihn im vergangenen Frühling in Zhoushan bereits betört hatte. Sondern auch genau die gleiche in Weiß.