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»Ja, leider«, bestätigte Ainslie. »Bleibt also dran. Wir brauchen euch wahrscheinlich nicht, aber es beruhigt, euch in der Nähe zu wissen.«

Ainslie wartete, bis sie auf die Straße hinausgefahren waren, bevor er Ruby fragte: »Also, was gibt's?«

»Wichtig ist, daß Cynthia uns möglicherweise schon erwartet«, sagte Ruby. »Wegen einer Tatsache, die ich gestern am späten Abend rausbekommen habe.«

»Viel Zeit haben wir nicht mehr. Los, reden Sie schnell!«

Und Ruby berichtete...

Seit sie aus Eleanor Ernsts Tagebuch wußte, daß Cynthia das Kind ihres Vaters zur Welt gebracht hatte, war sie bestrebt gewesen, das weitere Schicksal des Babys aufzuklären: eines ungeliebten Kindes, dessen Geschlecht Eleanor Ernst nicht einmal erwähnt hatte und das sofort zur Adoption freigegeben worden war.

»Es ist ein Mädchen gewesen«, berichtete Ruby. »Das habe ich im Adoptionszentrum gleich anfangs erfahren.« Weitergehende Auskünfte sowie die Einsichtnahme in die damalige Akte hatte das Zentrum jedoch aus Datenschutzgründen verweigert. Ruby hatte nicht darauf bestanden, erklärte sie Ainslie, weil diese Informationen nicht ermittlungsrelevant waren. Die Existenz des Kindes war schon bekannt, und die Aufklärung seines Schicksals hätte keinen Einfluß auf die Ermittlungen im Mordfall Ernst gehabt.

»Aber die Sache hat angefangen, mich persönlich zu interessieren«, sagte Ruby. »Ich bin noch mehrmals im Zentrum gewesen, weil ich dort eine ältere Sozialarbeiterin kennengelernt hatte, der ich zugetraut habe, sich über die Vorschriften hinwegzusetzen und mir Informationen zu liefern. Sie hat lange gezögert - und mich vorgestern angerufen, weil sie nächste Woche pensioniert wird. Ich bin gestern abend zu ihr gefahren, und sie hat mir die fotokopierte Adoptionsakte mitgegeben.«

Aus dieser Akte ging hervor, berichtete Ruby weiter, daß die Adoption von Cynthias Tochter keine zwei Jahre gedauert hatte. Die Adoptiveltern waren in einem Verfahren wegen Kindesmißhandlung verurteilt worden und hatten die Kleine wieder hergeben müssen. Danach war das Mädchen bis zu seinem vierzehnten Geburtstag, mit dem die Akte schloß, in ständig wechselnden Pflegefamilien untergebracht gewesen.

»Eine traurige Mischung aus Gleichgültigkeit und seelischer Grausamkeit«, stellte Ruby fest. »Ich wollte mich bei der letztgenannten Familie nach ihr erkundigen, aber das war überflüssig, als ich den Namen gesehen habe, den die Kleine bekommen hat - und noch heute trägt.«

»Nämlich?«

»Maggie Thorne.«

Der Name kam Ainslie bekannt vor; er konnte ihn nur nicht einordnen.

»Den Fall hat damals Jorge Rodriguez bearbeitet«, fuhr Ruby fort. »Die Sache mit dem deutschen Touristen Niehaus, der bei einem Raubüberfall erschossen worden ist. Ich glaube, Sie haben... «

»Richtig, ich habe gemeinsam mit Jorge ermittelt.«

Ainslie erinnerte sich wieder an die Einzelheiten - an einen kaltblütigen Mord, der international Aufsehen erregt hatte, und das schuldige Paar: Kermit Kaprum, ein junger Schwarzer, und Maggie Thorne, eine junge Weiße... die ballistischen Untersuchungen hatten gezeigt, daß beide geschossen hatten, wobei die tödlichen Schüsse aus Thornes Waffe stammten... bei ihrer Vernehmung hatte sie die Tat gestanden.

Schon damals, das wußte Ainslie noch gut, war ihm das Gesicht der jungen Frau bekannt vorgekommen. Jetzt war ihm auch klar, warum. Er hatte nicht die Beschuldigte, sondern Cynthia - ihre Mutter - gekannt. Noch nachträglich war Maggie Thornes Ähnlichkeit mit ihr geradezu unheimlich.

»Das ist noch nicht alles«, sagte Ruby, als sie auf den Bayshore Drive abbog. »Die Mitarbeiterin aus dem Adoptionszentrum, von der ich die Akte habe, hat versucht, sich abzusichern. Werden vertrauliche Unterlagen aus irgendeinem Grund weitergegeben, muß die wahre Mutter des Kindes informiert werden und das hat die Sozialarbeiterin getan. Sie hat Cynthia einen Formbrief über Maggie Thorne geschrieben -diesen Namen hat Cynthia vermutlich erstmals gehört -, um ihr mitzuteilen, die Polizei habe Auskünfte über ihre Tochter eingeholt. Dieser Brief ist am Freitag an die alte Adresse in Bay Point abgeschickt worden. Cynthia dürfte ihn inzwischen haben.«

»Der Fall Niehaus...« Ainslie war so verwirrt, daß seine Stimme schwankte. »Wie ist der ausgegangen?« Es gab so viele Fälle. Er glaubte sich zu erinnern, was aus dem jungen Paar geworden war, wollte aber trotzdem sichergehen.

»Kaprum und Thorne sind beide zum Tod verurteilt worden. Sie sitzen in der Death Row, legen durch sämtliche Instanzen Berufung ein.«

Ainslie konnte nur noch an Cynthia denken, die einen Formbrief erhalten hatte... Cynthia war hellwach; sie verfolgte wichtige Fälle und würde den Namen Maggie Thorne sofort mit der Sache Niehaus in Verbindung bringen und ihre Schlußfolgerungen aus der Tatsache ziehen, daß die Polizei sich für ihre Tochter interessierte... Ein Formbrief, der ihr praktisch mitteilte, ihr einziges Kind, das sie nie kennengelernt hatte, werde bald hingerichtet werden. Mitleid und tiefstes Mitgefühl überwältigten ihn und verdrängten in diesem Augenblick alle anderen Erwägungen. Malcolm ließ den Kopf sinken und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Ein krampfartiger Schauer durchlief seinen Körper. Er weinte.

»Entschuldigung«, sagte Ainslie zu Ruby. »Aber manchmal verliert man das Gefühl für Proportionen.« Er dachte an die Demonstranten vor dem Raiford-Gefängnis, die anscheinend die Opfer des Mörders vergessen hatten.

»Ich habe letzte Nacht auch geweint. Manchmal ist dieser Job...« Ruby schüttelte den Kopf.

»Wenn wir reingehen«, erklärte er ihr, »möchte ich zuerst allein mit Cynthia sprechen.«

»Das dürfen Sie nicht. Das wäre gegen... «

»Ich weiß, ich weiß! Das ist gegen die Vorschriften, aber Cynthia würde nie versuchen, mir sexuelle Belästigung vorzuwerfen; dazu ist sie zu stolz. Sie haben selbst gesagt, daß das Schreiben der Adoptionszentrale am Freitag an ihre alte Adresse in Bay Point gegangen ist; vielleicht hat sie's noch gar nicht bekommen. In diesem Fall könnte ich ihr die Nachricht schonender beibringen, und selbst wenn sie schon informiert wäre... «

»Malcolm, ich muß Sie an etwas erinnern«, wandte Ruby behutsam ein. »Sie sind kein Priester mehr.«

»Aber ich bin ein Mensch. Und ich verstoße gegen die Vorschriften, obwohl ich dazu Ihr Einverständnis brauche.«

»Ich habe auch meine Pflicht«, protestierte sie. Beide waren sich darüber im klaren, daß Ruby mit ihrer Karriere dafür bezahlen würde, wenn etwas schiefging.

»Hören Sie, ich stelle mich auf jeden Fall vor Sie, indem ich behaupte, ich hätte es Ihnen befohlen. Bitte!«

Sie hatten das Hafengebiet Dinner Key mit dem Rathaus erreicht. Ruby parkte direkt vor dem Haupteingang. Der Streifenwagen hielt gleich dahinter.

Ruby zögerte noch immer. »Ich weiß nicht recht, Malcolm.« Dann fragte sie: »Sagen Sie das auch Sergeant Braynen?«

»Nein. Sein Partner und er bleiben ohnehin hier draußen. Sie kommen mit hinein, warten aber in der Eingangshalle, während ich in Cynthias Büro gehe. Geben Sie mir eine Viertelstunde Zeit.«

Ruby schüttelte den Kopf. »Zehn Minuten. Höchstens.«

»Einverstanden.«

Die beiden betraten die einzigartige und anachronistische Miami City Hall durch den Haupteingang.

In einer Zeit, in der öffentliche Gebäude kaum prächtig genug sein konnten und kathedralische Bauten die vermeintliche Bedeutung von Politikern unterstrichen, drückt das Rathaus von Miami - einer der wichtigsten Großstädte Amerikas - eher das Gegenteil aus. Das auf einer Landzunge errichtete, auf zwei Seiten an die Biscayne Bay grenzende Gebäude ist ein verhältnismäßig kleiner, einstöckiger Bau, auf dessen weißer Fassade nur sein Name und einige wenige Jugendstilmotive in leuchtendem Blau prangen.

Viele Besucher staunen über die Schlichtheit dieses Gebäudes, obwohl darin der gewählte Oberbürgermeister, sein Stellvertreter, drei Commissioners und der Stadtdirektor ihre Büros haben. Andere, vor allem ältere Besucher, fühlen sich an einen Flugbootstützpunkt erinnert, was nicht überraschend ist, weil es der Fluggesellschaft Pan American Airways von 1934 bis 1951 als Stützpunkt für die Flying Clippers gedient hat, die Miami mit zweiunddreißig Ländern verbunden haben. Als Flugboote dann wie die Saurier ausstarben, mußte Pan Am den Stützpunkt schließen, der 1954 zur Miami City Hall wurde.