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»Nein, ich bin noch ganz frisch.«

Sie waren seit gut drei Stunden unterwegs, rechnete Ainslie sich aus, und hatten schon etwas über die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Berücksichtigte man, daß die Straßen ab der Interstate 75, auf die sie bald abbiegen würden, schlechter waren, konnten sie Raiford gegen 5.30 Uhr erreichen.

Da die Hinrichtung für 7.00 Uhr angesetzt war, blieb kaum noch Zeit für ein Gespräch. Nur eine Begnadigung in letzter Minute - in Doils Fall wenig wahrscheinlich - konnte eine Hinrichtung hinauszögern.

Ainslie lehnte sich zurück, um zu versuchen, seine Gedanken zu ordnen. Seine Erinnerungen an Elroy Doil und alle mit ihm zusammenhängenden Ereignisse glichen einem Aktenordner voller ungeordnet abgehefteter Notizen und Protokolle.

Er erinnerte sich daran, den Namen Doil erstmals gelesen zu haben, als er auf einer Computerliste potentieller Verdächtiger aufgetaucht war. Als Doil später zu den Hauptverdächtigen zählte, hatte die Mordkommission umfangreiche Ermittlungen bis in seine Kindheit zurück angestellt.

Elroy Doil war zweiunddreißig, als die Morde begannen. Er war in dem Wynwood genannten und von »armen Weißen« bewohnten Stadtviertel Miamis aufgewachsen. Obwohl dieser Name in keinem Stadtplan erscheint, besteht Wynwood aus sechzig Häuserblocks auf hundertdreißig Hektar Fläche mitten in Miami, mit überwiegend unterprivilegierter weißer Bevölkerung, die in schlimmen, von hoher Straffälligkeit, Unruhen, Plünderungen und Polizeibrutalität geprägten Verhältnissen lebt.

Unmittelbar südwestlich von Wynwood liegt Overtown ebenfalls auf keinem Stadtplan verzeichnet - mit überwiegend unterprivilegierter schwarzer Bevölkerung, die in vergleichbar schlechten Verhältnissen lebt.

Elroy Doils Mutter, die Prostituierte Beulah, war drogensüchtig und alkoholkrank. Freunden erklärte sie, der Vater ihres Sohnes »hätt' jeder von hundert Fickern sein können«, aber Elroy erzählte sie später, sein wahrscheinlichster Vater sitze lebenslänglich im Staatsgefängnis Belle Glade. Der Junge wuchs in Gesellschaft vieler verschiedener Männer auf, die unterschiedlich lange mit seiner Mutter zusammenlebten, und erinnerte sich an manche vor allem deshalb, weil sie ihn im Suff verprügelt oder sexuell mißbraucht hatten.

Weshalb Beulah Doil, die schon mehrere Abtreibungen hinter sich hatte, überhaupt ein Kind bekam, blieb unklar. Ihre Erklärung lautete, sie sei »bloß nie dazugekommen, sich den Balg wegmachen zu lassen«.

Später unterwies Beulah, eine gerissene, praktisch veranlagte Frau, ihren Sohn in Kleinkriminalität und wie man es vermied, dabei geschnappt zu werden. Elroy lernte schnell. Als Zehnjähriger stahl er Lebensmittel für seine Mutter und sich und klaute alles, was ihm in die Finger kam. Er beraubte auch seine Mitschüler. Dabei war es von Vorteil, daß er für sein Alter groß und ein brutaler Schläger war.

Unter Beulahs Anleitung lernte der Heranwachsende, das Jugendstrafrecht zu seinem Vorteil zu nutzen. Trotz mehrerer Festnahmen wegen Körperverletzung, Einbruch und Ladendiebstahl wurde er nach strengen Ermahnungen jedesmal wieder in die Obhut seiner Mutter entlassen.

Mit siebzehn Jahren - aber das erfuhr Malcolm Ainslie erst viel später - wurde Elroy Doil erstmals wegen Mordes verdächtigt. Er war bei der Flucht aus der Umgebung des Tatorts gestellt worden und sollte vernommen werden. Da er noch unter das Jugendstrafrecht fiel, wurde seine Mutter aufs Polizeirevier bestellt, wo Elroy in ihrer Anwesenheit von Kriminalbeamten verhört wurde.

Bei eindeutiger Beweislage wäre er nach Erwachsenenstrafrecht wegen Mordes in Untersuchungshaft gekommen. Beulah war im Umgang mit der Polizei erfahren und verweigerte jegliche Zusammenarbeit. Sie erlaubte nicht, daß ihrem Sohn die Fingerabdrücke zum Vergleich mit einem in der Nähe des Tatorts gefundenen Messer abgenommen wurden. Aus Mangel an Beweisen mußte die Polizei Doil schließlich entlassen, und der Mordfall blieb ungelöst.

Als er dann Jahre später als Serienmörder verdächtigt wurde, blieb seine Jugendstrafakte geschlossen, und seine Fingerabdrücke waren nicht registriert.

Nachdem Doil mit achtzehn Jahren volljährig geworden war, setzte er die Gerissenheit, die er sich als Jugendlicher auf der Straße erworben hatte, ein, um weitere Straftaten zu verüben. Da er nie geschnappt wurde, schien er keine Vorstrafen zu haben. Erst als das Police Department sich später gründlich mit seinem Vorleben beschäftigte, tauchten wichtige Informationen auf, die unterschlagen oder vergessen worden waren.

Jorge sagte plötzlich: »Wir müssen tanken, Sergeant. Am besten dort vorn in Wildwood.« Es war fast drei Uhr.

»Okay, aber beeilen Sie sich wie bei einem Boxenstopp. Ich hole uns inzwischen Kaffee.«

»Und Kartoffelchips. Nein, lieber Kekse. Wir brauchen Kekse.« Auf der Abbiegespur zur Ausfahrt waren bereits die Leuchtreklamen mehrerer Tankstellen zu sehen. Wildwood war ein traditioneller Rastplatz - tagsüber eine unordentliche Ansammlung von Touristenläden, die von Schund überquollen, nachts ein Tankhalt für Fernfahrer.

Jorge steuerte die erste Tankstelle an. Dahinter stand ein auch nachts geöffnetes Waffle House, in dessen Nähe mehrere Autos parkten. Um zwei dieser Fahrzeuge herum standen fünf oder sechs schemenhafte Gestalten. Als der Streifenwagen heranrollte, schossen Köpfe hoch, und Gesichter wandten sich den näher kommenden Scheinwerfern zu.

Dann geschah alles blitzschnell. Die Männer, die vor Sekunden noch eine dichtgedrängte Gruppe gebildet hatten, stoben auseinander. Die Türen geparkter Wagen wurden aufgerissen, Gestalten warfen sich hinein, und während die Türen noch offenstanden, sprangen bereits die Motoren an. Die Autos rasten davon, mieden die Interstate und kamen auf Nebenstraßen rasch außer Sicht.

Jorge und Ainslie lachten.

»Auch wenn wir heute nacht sonst nichts erreichen«, stellte Ainslie fest, »haben wir zumindest einen Drogendeal platzen lassen.«

Beide wußten, daß die I-75 so spät nachts eine gefährliche Route war. Außer Drogenhändlern waren hier auch Diebe, Prostituierte und Straßenräuber unterwegs.

Aber der Anblick eines Streifenwagens hatte sie alle verschreckt.

Ainslie gab Jorge Geld für Benzin und kam aus dem Waffle House mit Kaffee und Keksen zurück. Als Jorge wieder auf die I-75 hinauffuhr, schlürften sie ihren Kaffee durch die Aussparungen in den Plastikdeckeln der Pappbecher.

4

Ainslie und Jorge befanden sich jetzt vierhundertdreißig Kilometer nördlich von Miami und hatten noch gut hundertsechzig vor sich. Zwischen den Lastwagen, die um diese Zeit die Interstate für sich allein hatten, kamen sie gut voran. Es war 3.30 Uhr. »Wir schaffen's, Sergeant«, stellte Jorge fest. »Kein Problem.«

Ainslie fühlte sich erstmals seit ihrer Abfahrt aus Miami etwas weniger verkrampft. Er starrte durchs Seitenfenster in die Dunkelheit hinaus und murmelte: »Ich will nur hören, wie er's sagt.«

Er sprach wieder von Doil und mußte sich eingestehen, daß Karen in gewisser Weise recht hatte. Sein Interesse an Doil ging tatsächlich über das Berufliche hinaus. Nachdem er das an jedem Tatort angerichtete Blutbad gesehen, monatelang nach dem Killer gefahndet und Doils schrecklichen Mangel an Reue beobachtet hatte, war Ainslie der ehrlichen Überzeugung, die Welt müsse von diesem Mann befreit werden. Er wollte hören, wie Doil die Morde gestand, und dann - auch wenn er Jorge zuvor etwas anderes erzählt hatte - wollte er ihn sterben sehen. Das würde er voraussichtlich schaffen.

»Verdammt!« rief Jorge im nächsten Augenblick. »Dort vorn muß etwas passiert sein!«

Der auf der Interstate nach Norden fließende Verkehr wurde plötzlich dichter und geriet ins Stocken. Auf allen Fahrbahnen vor ihnen leuchteten Bremslichter auf. Jenseits des Mittelstreifens der I-75 war kein einziges Fahrzeug in Richtung Süden unterwegs.

»Scheiße! Scheiße!« Ainslie schlug mit der Faust aufs Handschuhfach. Der Streifenwagen schob sich im Kriechtempo an die lange Schlange roter Bremslichter heran. In der Ferne waren die Blinklichter von Rettungsfahrzeugen auszumachen.