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Sie standen auf, schlossen die Luken, und Wadkins machte einen großen Schritt über das Ankertau, um nicht noch einmal zu stolpern.

Lebie blieb stehen.

»Was ist los?« fragte Harry.

»Nun«, sagte Lebie, »ich verstehe ja nicht so viel von Booten, aber ist das da üblich?«

»Was denn?«

»Den Anker zu setzen, wenn man vorne und hinten am Anleger vertäut ist?«

Sie schauten einander an.

»Los, faß mit an«, sagte Harry.

Es war drei Uhr.

Sie rasten über die Straße. Die Wolken rasten am Himmel. Die Bäume am Rand des Weges schüttelten sich und winkten sie weiter. Das Gras drückte sich flach an den Boden, und es knackte im Funkgerät. Die Sonne war verblaßt, und dunkle Schatten huschten über das Meer.

Harry saß auf dem Rücksitz, aber er sah nichts von dem Sturm, der um sie herum aufkam. Er sah nur das grüne schmierige Tau, das sie mit langsamen, schweren Zügen aus dem Meer gezogen hatten. Die Wassertropfen waren wie glitzernde Kristallstückchen aus dem Tau ins Wasser zurückgefallen, und weit dort unten hatte er eine weiße Kontur erkennen können, die sich ihnen langsam näherte.

Einmal in den Sommerferien hatte Vater ihn im Ruderboot mitgenommen. Sie hatten einen Heilbutt gefangen. Der war weiß gewesen und unbeschreiblich groß, und auch da hatte Harry einen ganz trockenen Mund bekommen, und seine Hände hatten gezittert. Mutter und Großmutter hingegen hatten die Hände begeistert über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie mit ihrem Fang in die Küche gekommen waren, und hatten sofort begonnen, den kalten, blutigen Fischkörper mit großen, glänzenden Messern zu zerschneiden. Den Rest des Sommers hatte Harry von dem schweren Heilbutt geträumt. Von den herausquellenden Augen, die schockiert erstarrt waren, als wollten sie nicht glauben, daß er jetzt sterben mußte. An Weihnachten hatte er dann große, geleeartige Stücke auf seinem Teller gehabt, und sein Vater hatte stolz erzählt, wie Harry und er den großen Heilbutt aus dem Isfjord gezogen hatten. »Wir haben gedacht, wir essen dieses Jahr Weihnachten mal etwas anderes«, hatte seine Mutter gesagt. Es hatte nach Tod und Verwesung geschmeckt, und verbittert und wütend war Harry vom Tisch aufgestanden.

Und jetzt saß er auf dem Rücksitz eines rasenden Autos. Er schloß die Augen und sah sich selbst ins Wasser hinabstarren, in dem etwas schimmerte, das aussah wie eine Feuerqualle, die bei jedem Ruck mit dem Tau ihre roten Nesselfäden anlegte, um sie sogleich wieder auszubreiten, als wolle sie davonschwimmen. Als sie an die Oberfläche kam, breitete sie ihre Fäden fächerförmig aus, als versuchte sie den nackten weißen Körper darunter zu verbergen. Das Ankertau war um den Hals gewickelt, und der leblose Körper kam Harry merkwürdig fremd vor. Als ginge er ihn nichts an.

Aber als sie sie auf den Rücken drehten, spürte Harry ihn wieder. Diesen Blick von diesem Sommer. Ein gebrochener Blick, der eine überraschte, klagende letzte Frage ausdrückte: Ist das alles? Bedeutet das wirklich, daß es so mir nichts, dir nichts zu Ende ist? Sind Leben und Tod wirklich so banal?

»Ist sie das?« hatte Wadkins gefragt, und Harry hatte die Frage verneint.

Als er die Frage wiederholt hatte, war Harrys Blick auf das Schulterblatt gefallen, über das sich neben einem noch weißeren Streifen, an dem das Bikinioberteil gesessen hatte, rote Haut spannte.

»Sie hat sich verbrannt«, hatte er verwundert gesagt. »Sie bat mich, sie auf dem Rücken einzucremen. Sie sagte, sie vertraue mir, aber sie hat sich verbrannt.«

Wadkins hatte sich vor ihn gestellt und seine Hände auf Harrys Schultern gelegt. »Es ist nicht deine Schuld, Harry. Hörst du? Es wäre so oder so passiert. Es ist nicht deine Schuld!«

Es war jetzt merklich dunkler geworden, und ein paar gewaltige Böen rissen und zerrten an den großen Eukalyptusbäumen, so daß es aussah, als wollten sie sich losreißen und, vom Sturm zum Leben erweckt, herumlaufen. »Die Adler singen«, sagte Harry plötzlich vom Rücksitz. Seit sie losgefahren waren, hatte niemand auch nur ein Wort gesagt. Wadkins drehte sich um, und Lebie schaute ihn über den Rückspiegel an. Harry räusperte sich laut.

»Andrew hat das mal gesagt. Daß die Adler und die Menschen der Adlerfamilie die Macht hätten, mit ihrem Gesang Sturm und Regen zu erzeugen. Er erzählte, daß die große Flut von der Adlerfamilie heraufbeschworen worden war, sie hatten gesungen und sich mit den Flintmessern blutig geschnitten, um den Platybus — das Schnabeltier – zu ertränken.« Er lächelte andeutungsweise. »Fast alle Schnabeltiere starben. Aber einige überlebten. Wißt ihr, wie sie das geschafft haben? Sie lernten, unter Wasser zu atmen.«

Die ersten dicken Regentropfen legten sich zitternd auf die Windschutzscheibe.

»Wir haben wenig Zeit«, sagte Harry. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis Toowoomba merkt, daß wir ihm auf den Fersen sind, und dann wird er schneller verschwinden als eine Erdratte in ihrem Loch. Ich bin der einzige, der eine Verbindung zu ihm hat, und ihr sitzt jetzt da und fragt euch, ob ich das schaffe. Nun, was soll ich sagen? Ich glaube, ich habe dieses Mädchen geliebt.«

Wadkins sah betroffen aus. Lebie nickte langsam.

»Aber ich habe mir vorgenommen, unter dem Wasser zu atmen«, sagte Harry.

Es war halb vier, und niemand im Besprechungszimmer bemerkte das Klagelied des Ventilators.

»Gut, wir wissen, wer unser Mann ist«, sagte Harry. »Und wir wissen, daß er glaubt, daß wir es nicht wissen. Vermutlich glaubt er, daß ich zur Zeit versuche, Beweise gegen Evans White heranzuschaffen. Aber ich befürchte, daß diese Situation nicht allzulange anhalten wird. Die Zeit, in der wir in all den Haushalten die Telefone blockieren dürfen, ist begrenzt, und außerdem wirkt das um so unglaubwürdiger, je länger es dauert, diesen angeblichen Fehler zu beheben.

Wir haben Beamte bei ihm zu Hause, für den Fall, daß er auftaucht. Ebenso am Segelboot. Doch ich persönlich bin mir sicher, daß er viel zu vorsichtig ist, etwas Dummes zu tun, ohne sich vorher zu vergewissern, daß die Luft rein ist. Es ist wohl anzunehmen, daß ihm im Laufe des Abends klar wird, daß wir in seiner Wohnung waren. Wir haben nur zwei Alternativen. Wir können Alarm schlagen, über das Fernsehen die Fahndung einleiten und hoffen, daß wir ihn kriegen, bevor er verschwindet. Dagegen spricht, daß jemand, der so einen Alarm bei sich zu Hause eingerichtet hat, sicher auch über alles weitere nachgedacht hat. Sobald er sein Bild auf dem Bildschirm gesehen hat, riskieren wir, daß er wie vom Erdboden verschluckt sein wird. Die zweite Alternative verlangt von uns, die wenige Zeit zu nutzen, die wir noch haben, bevor er unseren Atem in seinem Nacken spürt, ihn zu schnappen, solange er sich noch sicher fühlt … nun, äh, relativ sicher.«

»Ich bin dafür, ihn zu schnappen«, sagte Lebie und entfernte tatsächlich ein einzelnes Haar von seiner Schulter.

»Ihn schnappen?« brummte Wadkins. »Wir befinden uns in einer Millionenstadt und haben nicht die geringste Ahnung, wo er steckt. Wir wissen ja nicht einmal, ob er noch in Sydney ist!«

»Sagen Sie das nicht«, sagte Harry. »Die letzten anderthalb Stunden war er jedenfalls in Sydney.«

»Was? Willst du damit sagen, daß er observiert wird?«

»Yong?« Harry überließ das Wort dem noch immer lächelnden Chinesen.

»Das Handy!« begann er. Als habe man ihn gebeten, seine Noten vor der ganzen Klasse laut vorzulesen.

»Alle Handytelefonate laufen über Zwischenstationen, die die Telefonsignale entgegennehmen und weiterleiten. Die Telefongesellschaften können somit feststellen, von welchen Abonnenten Signale bei den unterschiedlichsten Stationen eingehen. Jede Zwischenstation deckt ungefähr einen Radius von einer Meile ab. In gut ausgebauten Arealen, also in dicht besiedelten Gebieten, wird ein Telefon in der Regel von mehreren Zwischenstationen gleichzeitig abgedeckt. Das ist vergleichbar mit den Radiosendern. Das heißt, daß die Telefongesellschaften, wenn man telefoniert, angeben können, wo im Umkreis von einer Meile man sich befindet. Wenn das Gespräch bei zwei Basisstationen gleichzeitig eingeht, kann der Bereich auf die Überlappungszone dieser Stationen eingeschränkt werden. Werden die Signale von drei Basisstationen aufgefangen, ist der Bereich noch kleiner und so weiter und weiter. Die Handys können also nicht bis zu einer bestimmten Wohnung zurückverfolgt werden, sie können aber einen guten Anhaltspunkt geben«, erklärte Yong.