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Als er die Augen öffnete, stand er noch immer aufrecht. Eine Tür am anderen Ende des Raumes stand offen, und er war sich ziemlich sicher, daß Toowoomba durch diese entkommen war. Doch er hörte ein Kling-Klong-Geräusch und ging davon aus, daß es von der Pistole stammte, die über die Metalltreppe nach unten polterte. Er entschied sich zugunsten der Pistole. Mit einem selbstmörderischen Sprung über die Treppe nach unten schlug sich Harry die Unterarme und die Knie auf, es gelang ihm aber, die Pistole noch rechtzeitig zu packen, bevor sie über die Kante rutschte und in einem zwanzig Meter tiefen Schacht verschwinden konnte. Er hockte sich auf die Knie, hustete und konstatierte, daß er schon den zweiten Zahn verloren hatte, seit er in dieses verdammte Land gekommen war.

Er stand auf und wäre um ein Haar sofort wieder ohnmächtig geworden.

»Harry!« schrie jemand in sein Ohr.

Er hörte auch, daß ein Stück unter ihm die Tür aufgerissen wurde und Schritte, die die Treppe erzittern ließen. Harry visierte die Tür des Raumes vor ihm an, ließ das Geländer los, schwankte vor, traf mit viel Glück und taumelte weiter. Er machte ein paar wacklige Schritte, um nicht kopfüber nach vorne zu fallen, visierte die nächste Tür am anderen Ende an, traf erneut und stolperte mit dem Gefühl, sich die Schulter ausgekugelt zu haben, in die Dämmerung hinaus.

»Toowoomba!« schrie er in den Wind. Er schaute sich um. Direkt vor ihm lag die Stadt, hinter ihm die Pyrmont Bridge. Er stand auf dem Dach des Aquariums und mußte sich in den Windböen am oberen Geländer einer Feuertreppe festhalten. Das Meerwasser war vom Sturm weiß aufgepeitscht, und er schmeckte das Salz in der Luft. Direkt unter sich sah er eine dunkle Gestalt, die die Feuertreppe hinunterkletterte. Sie hielt einen Augenblick inne und sah sich um. Zu ihrer Linken stand ein Polizeiwagen mit laufendem Blaulicht, vor ihr, durch eine Absperrung gesichert, die zwei Tanks, die über dem Aquarium emporragten.

»Toowoomba!« brüllte Harry und versuchte die Pistole anzuheben. Seine Schulter aber verweigerte ihm den Dienst, und Harry schrie vor Schmerzen und Wut. Die Gestalt war am Ende der Feuerleiter angelangt, sie lief zur Absperrung und begann, über sie hinüberzuklettern. Harry begriff in diesem Moment, was sich dieser Mensch vorgenommen haben mußte – er wollte das Becken überqueren und dann das kurze Stück zum Kai hinüberschwimmen. Von dort würde es nur ein paar Sekunden dauern, bis er im Gewimmel der Großstadt verschwand. Harry stürzte sich im wahrsten Sinne des Wortes die Feuerleiter hinunter. Er stürmte zu der Absperrung hinüber, als wolle er sie geradewegs niederreißen, quälte sich mit einem Arm hinüber und schlug mit einem Klatschen auf dem Zement auf der anderen Seite auf.

»Harry, melde dich!«

Er riß sich den Stöpsel aus dem Ohr und hastete zu dem großen Tank hinüber. Die Tür stand offen. Er lief hinein und ließ sich auf die Knie fallen. Unter dem geschwungenen Dach des Tanks vor ihm lag, im Licht unzähliger Lampen, die an Stahlseilen darüber gespannt waren, ein Stück eingezäunte Sydney Bay. In der Mitte des Tanks verlief eine schmale Pontonbrücke, über die Toowoomba rannte. Er hatte schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt. Toowoomba trug einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Hose, und er lief so elegant, wie das auf einer schmalen, instabilen Pontonbrücke möglich war.

»Toowoomba!« rief Harry zum dritten Mal. »Ich bin es, Harry. Ich schieße!«

Er ließ sich nach vorne fallen. Nicht, weil er sich nicht mehr aufrecht halten, sondern weil er seinen Arm nicht mehr heben konnte. Dann nahm er die schwarze Gestalt ins Visier und drückte ab.

Der erste Schuß klatschte direkt vor Toowoomba ins Wasser, der weiterrannte. Harry zielte ein bißchen weiter nach hinten. Es platschte direkt hinter Toowoomba. Der Abstand betrug jetzt beinahe hundert Meter. Ein absurder Gedanke schoß Harry durch den Kopf: Alles war wie in der Trainingshalle in Økern – die Lampen an der Decke, das Echo der Schüsse an den Wänden, der Pulsschlag im Finger am Abzug und die tiefe, meditative Konzentration.

Wie in der Trainingshalle in Økern, dachte Harry, und drückte zum dritten Mal ab.

Toowoomba stürzte nach vorne.

Harry erklärte später, er nehme an, der Schuß müsse Toowoombas linken Oberschenkel getroffen haben und somit sei er sicher nicht tödlich gewesen. Natürlich wußten aber alle inzwischen, daß das die reinste Spekulation war, denn es war unmöglich, zu sagen, wo man einen Mann auf hundert Meter Entfernung mit einer Dienstwaffe getroffen hatte. Harry hätte sagen können, was er wollte, ohne daß ihm jemand das Gegenteil hätte beweisen können. Denn es gab keine Leiche, die man hätte obduzieren können.

Toowoomba lag mit dem linken Arm und Bein im Wasser und schrie, während Harry über die Pontonbrücke rannte. Ihm war schwindelig und übel, und alles begann vor seinen Augen unscharf zu werden – das Wasser, das Licht an der Decke und die hin- und herschwappende Brücke vor ihm. Während Harry rannte, mußte er an Andrews Worte denken. Daß die Liebe ein größeres Wunder als der Tod sei. Und er mußte an die alte Erzählung denken.

Das Blut rauschte stoßweise in seinen Ohren, und Harry war der junge Krieger, Walla, und Toowoomba die Schlange Bubbur, die Wallas Geliebter, Moora, das Leben genommen hatte. Und jetzt mußte Bubbur getötet werden. Aus Liebe.

In der später folgenden Erklärung konnte McCormack nicht mehr sagen, was Harry Holy in das Mikrophon geschrien hatte, nachdem sie die Schüsse gehört hatten.

»Wir haben nur gehört, daß er rannte und etwas schrie, vermutlich in seiner Muttersprache.«

Auch Harry konnte nicht mehr sagen, was er gerufen hatte.

Harry rannte in einer Art Wettlauf mit dem Tod über die Pontonbrücke. Es zuckte in Toowoombas Körper. Ein Ruck, der die ganze Pontonbrücke erzittern ließ. Harry glaubte zuerst, daß etwas an die Brücke gestoßen sein mußte, doch dann erkannte er, daß er im Begriff war, um seine Beute betrogen zu werden.

Es war das Seeungeheuer.

Es reckte seinen weißen Totenschädel aus dem Wasser und riß seinen Schlund auf. Alles geschah ganz langsam, wie im Kino. Harry war sich sicher, daß es Toowoomba mit sich reißen würde, aber es bekam ihn nicht richtig zu fassen, und es gelang ihm nur, den schreienden Körper etwas weiter ins Wasser zu zerren, bevor es unverrichteter Dinge noch einmal abtauchen mußte.

Keine Arme, dachte Harry und erinnerte sich an einen Geburtstag vor langer, langer Zeit bei Großvater in Ändalsnes. Damals hatten sie versucht, nur mit dem Mund Äpfel aus einem Wasserfaß zu fischen, und Mutter hatte so lachen müssen, daß sie sich anschließend hinlegen mußte. Er war noch dreißig Meter entfernt. Er glaubte schon, es zu schaffen, doch da tauchte der große Hai wieder auf. Er war so nah, daß Harry sehen konnte, wie er seine kalten Augen in voller Ekstase nach hinten rollte, wobei er ihm triumphierend seine doppelte Zahnreihe präsentierte. Diesmal gelang es ihm, einen Fuß zu packen. Dann schlug er mit dem Kopf hin und her. Wasser spritzte hoch, und Toowoomba wurde wie eine gliedlose Puppe durch die Luft geschleudert. Sein Schreien verstummte schlagartig. Harry war jetzt an der Stelle angekommen.

»Du Scheiß-Monster! Er gehört mir!« schrie er mit tränenerstickter Stimme, hob die Pistole und feuerte ins Wasser, bis sein Magazin leer war. Das Wasser hatte einen klaren, durchsichtigen Rotton, wie rote Limonade, und unter sich sah Harry das Licht des unter dem Wasser liegenden Tunnels, in dem Erwachsene und Kinder zusammenströmten, um dem Ende beizuwohnen, einem echten Naturdrama mit all seinem Grauen, einem Festessen, das in seiner Medienwirksamkeit dem Clownsmord in nichts nachstehen würde.