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Es war für mich wie ein Keulenschlag, und ich erkannte, daß Saul die Wahrheit gesagt hatte und daß ich in diesen vergangenen Monaten meinen Mitmenschen den Rücken gekehrt hatte. Ich blieb unterwegs nicht ungeschoren. Mehrmals, als ich durch dunkle Gassen ging, wurde ich von wilden Kreaturen angefallen, die mit ihren Krallen an meiner Kleidung zerrten und nach Verwesung stanken. Doch ich war stärker als sie, in der Tat stärker als zehn von ihnen, denn ich hatte in den letzten Tagen gegessen, wenn es auch nur wenig gewesen war, während sie gar nichts zu sich genommen hatten. Und so war ich mit einiger Anstrengung imstande, meine Angreifer abzuwehren und mich irgendwie zu Sauls Versteck durchzuschlagen.

Er lag auf dem Steinboden mit zwei Freunden an seiner Seite. Das einzige Licht in der totenähnlichen Dunkelheit kam vom Mond, der silbrig durch das kleine, hoch oben gelegene Fenster schien. Ich weiß nicht, an was für einem Ort ich mich eigentlich befand, doch es stank widerlich nach Urin und Fäulnis. Die beiden Männer, die bei ihm saßen, glichen jenen hohläugigen Gespenstern, die in den Straßen umhergingen und nur nach einem Platz suchten, an dem sie sich zum Sterben niederlegen konnten. Sie waren wie mein lieber Saul mit Lumpen bekleidet, unglaublich schmutzig und mit Blut bespritzt. Als sie mich sahen, erhoben sie sich wortlos und ließen uns allein.

Ich stand eine Weile unentschlossen über meinem Freund, bevor ich neben ihm auf die Knie fiel, so betäubt war ich von seiner Erscheinung. Wo war der stattliche, fröhliche Mann, den ich so lange Zeit meinen Bruder genannt hatte? Wer war dieser arme, abgezehrte Teufel, der kaum atmete und in seinem eigenen Dreck lag?

Ich konnte die Tränen nicht unterdrücken. Mein treuer Freund rang sich ein Lächeln ab und meinte:»Du hättest nicht herkommen sollen, Bruder, denn draußen ist es gefährlich. In deinem Haus wärst du zumindest noch für eine Weile sicher gewesen.«

«Ich hatte unrecht!«rief ich voll Schmerz.»Wie blind ich doch war! Am ersten Tag, als du zu mir kamst, hätte ich das Schwert nehmen sollen, denn dann wäre dein Tod nicht umsonst! Jerusalem wird den Kampf verlieren, Saul, und wir werden für immer verloren sein!«

Aber er schüttelte den Kopf und erwiderte:»Nein, mein Bruder, ich bin es, der unrecht hatte, und du hattest recht. Es wird einen Messias geben, der eines Tages nach Israel kommt, und Zion wird wieder regieren. Aber es war noch nicht an der Zeit. Als ich das Schwert ergriff, David, begrub ich meinen Glauben an Gott. Du hingegen hast durch deine Gebete den Bund mit ihm eingehalten. In meiner Eitelkeit glaubte ich, Jerusalem eigenhändig retten zu können. Ich wollte den göttlichen Ratschluß mit Gewalt herbeiführen und trachtete danach, Gottes Handeln zu erzwingen. Doch jetzt erkenne ich, daß wir die Stunde, die der Herr für sein Volk bestimmt, nicht vorhersehen können. Wir können nur warten und beten und ihm unsere Würde bezeugen.

Du, mein Bruder David, stehst in deiner Würde über allen anderen Menschen, während ich unwürdig bin. Ich und andere, die wie ich ein mangelndes Vertrauen in Gott bewiesen haben, tragen Schuld daran, daß der Tag der Erlösung zurückgedrängt worden ist. Hätte auch ich zusammen mit dir gebetet, wie ich es hätte tun sollen.«

Saul erlitt einen Husten- und Spuckanfall, daß mir angst und bange wurde.

Und während er trotz seiner unerträglichen Schmerzen noch immer lächelte, flüsterte er:»Ich habe dich über alles geliebt, mein Bruderbund benutze meinen letzten Atemzug, um eine Bitte an dich zu richten.«

Ich konnte nicht antworten, sondern schluchzte nur. Er fuhr fort:»Kümmere dich an meiner Statt um Sara und Jonathan. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind; ich habe sie aus den Augen verloren. Mache sie ausfindig und rette sie irgendwie vor dem Schicksal, das jenseits der Stadtmauern auf sie wartet. Ich könnte es nicht ertragen, wenn die Römer Hand an sie legten. Versprich mir, David, daß du sie beschützen wirst!«

Und ich versprach Saul, daß ich sie behüten würde, sollte es mich mein eigenes Leben kosten.

«Und jetzt«, flüsterte er,»jetzt gibt es noch etwas, das ich dir sagen muß. Ich sage es dir, weil ich im Sterben liege und weil du leben wirst, und ich sage es dir auch, weil ich dich liebe. Ich weiß schon seit vielen Jahren, daß du Sara liebst, David. Ich weiß es, weil du mein Bruder bist und wir keine Geheimnisse voreinander haben. Ich habe es stets in deinen Augen gesehen, und ich habe es auch in den ihren erkannt. Ihr habt euch von jenem Tage an geliebt, da ich euch zum erstenmal miteinander bekanntmachte, und ihr liebt euch bis zu dieser Stunde. Ich nehme es dir nicht übel und habe es auch nie getan, denn Sara ist eine gute Frau. Ich kann verstehen, was dir so an ihr gefällt. Und du bist ein guter Mann. Ich weiß, warum sie dich liebt.

Indes vermute ich, lieber Bruder, daß du über Jonathan nicht Bescheid weißt. Sara ist sich auch nicht bewußt, daß ich davon weiß. Sie glaubt vielmehr, daß sie allein das Geheimnis all die Jahre hindurch gehütet habe. Doch ein Mann weiß diese Dinge, so wie du es jetzt erfahren mußt. Jonathan ist dein Sohn.«

Ben brach an seinem Schreibtisch zusammen. Er schluchzte laut und durchweichte das Foto mit seinen Tränen, während Judy leise weinte und ihre Hand sanft auf seiner Schulter ruhen ließ. Es verging eine ganze Weile, bevor sie imstande waren, zum nächsten Teilstück überzugehen. Und als sie soweit waren, schrieb Ben die Übersetzung nicht länger nieder, sondern las sie gleich mit lauter Stimme vor.

«Wie kann das sein?«rief ich.

Saul antwortete:»Wenn du nur deine Augen öffnest, wirst du dich selbst in Jonathan erkennen. Er wurde zwei Monate zu früh geboren, doch du bemerktest es nicht, mein lieber, begriffsstutziger Freund. Da wußte ich, daß du Sara erkannt hattest und daß sie keine Jungfrau gewesen war. Zuerst war ich verletzt, aber ich liebte sie so sehr, und ich liebte dich so sehr, daß ich den Schmerz überwand und Jonathan als mein leibliches Kind betrachtete. Doch wenn ich tot bin, wird Sara ihm erzählen, daß du sein Vater bist, und Jonathan wird nach dir suchen. Finde heraus, wo sie sind, David, bevor es zu spät ist!«

Saul starb in meinen Armen, noch immer mit demselben Lächeln auf den Lippen, und von diesem Augenblick an beneidete ich ihn. Aber der Tod kommt niemals zu dem, der ihn sucht, und obgleich ich unbewaffnet und ohne nach links und rechts zu sehen durch die Straßen lief und immer noch ein Stück Brot in meinem Gürtel trug, wurde ich nicht behelligt.

Als ich zu Miriams Haus — oder zu dem, was davon übrig war — zurückkehrte, stand ich davor, wie ein Mensch, der den Untergang miterlebt. Ich empfand überhaupt nichts mehr und zeigte beim Anblick des völlig zertrümmerten Hauses keinerlei Gefühlsregung. Oh, welch ein Gemetzel! Wie können Unschuldige zu Opfern eines solchen Überfalls werden? Wer wäre imstande, wehrlose Frauen und Kinder abzuschlachten, sie derart zu verstümmeln und sie so widerlich zu schänden?

Wäre ich in diesem Moment bei vollem Verstand gewesen, hätte mich eine rasende Wut gepackt. Doch jetzt geschah nichts dergleichen. Die letzten paar Stunden hatten mich so abgestumpft, daß ich zu nichts anderem mehr fähig war, als dazustehen und die Grausamkeit und die Zerstörung um mich her zu betrachten. Diese freundlichen, sanften Juden, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie auf ihren Heiland gewartet hatten, waren wegen ihrer paar Stücke Brot niedergemetzelt worden. Und nicht der römische Feind hatte dies verbrochen, sondern jüdische Glaubensbrüder.

Meine liebe Rebekka lag unter dem Leichnam von Matthäus, der wohl versucht haben mußte, sie kämpfend zu verteidigen, und ihr rotes Haar mischte sich mit dem roten Blut, das ihr aus einer klaffenden Wunde am Kopf strömte.

Und warst du nicht derjenige, lieber Matthäus, der oft sagte, daß jene, die mit dem Schwert leben, auch durch das Schwert sterben werden?