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Die Luke wurde wieder geschlossen, aber nur für kurze Zeit. Drinnen näherten sich diesmal eilige Schritte. Mit kräftigem Schwung wurde die Tür geöffnet, und Henri sah sich einem langjährigen Freund gegenüber, dem christlichen Gelehrten Theophil von Speyer.

»Dich schickt der Himmel!«, rief Henri nach einer stürmischen Umarmung. Warum sollte er jetzt noch das Judentum seines Freundes Joshua ben Shimon verleugnen? Denn Theophil hatte sich in Speyer als Schutzherr der Juden erwiesen und deshalb so manche Feindschaft auf sich gezogen.

»Weißt du noch, als man dich lynchen wollte und wir beide uns an einem unwürdigen Ort verstecken mussten?«, fragte Henri lachend. Jetzt konnte er sich an die damals so gefährliche Situation mit Vergnügen erinnern.

Theophil grinste. Anscheinend dachte auch er daran, dass sie in einer Kloake vor ihren Verfolgern Schutz gesucht hatten. Aber er wurde sogleich wieder ernst. »Ich habe deine tatkräftige Hilfe niemals vergessen und bin unendlich glücklich, dass du der Verhaftungswelle entkommen bist. Aber wer ist dein Gefährte? Ist auch er ein Templer?«

Henri schüttelte den Kopf. »Nein, Joshua ist ein jüdischer Gelehrter und gehört zu meinen besten Freunden. Er muss sich verbergen, genauso wie ich. Aber im Gegensatz zu mir hat er nichts anderes mehr als die Kleidung auf seinem Leib. All seine Habe wurde konfisziert, und Außenstände wurden zugunsten des königlichen Schatzes eingetrieben.«

Henri erinnerte sich an die grauenvollen Erlebnisse in Paris. »Wir flüchteten gemeinsam aus der Stadt, während man die Großmeister des Templerordens auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Ihren letzten Fluch zu erfüllen, den sie Philipp aus den Flammen entgegenschleuderten, ist für mich höchste Pflicht.«

Theophil von Speyer breitete die Arme aus. »Seid mir willkommen! Auch der Abt wird euch als Flüchtlinge vor den Schergen Philipps freundlich begrüßen und aufnehmen.«

Er hatte nicht zu viel versprochen. Der Abt, ein Freund der Wissenschaften, lud den christlichen und den jüdischen Gelehrten ein, gemeinsam mit ihm die umfangreiche Bibliothek aufzusuchen. So blätterten die drei in den Folianten und verstrickten sich in hitzige Disputationen. Joshua beugte sich über die Schriften, seine Brille auf der Nase – eine neue Mode, von der vor allem die Schreiber und Künstler profitierten.

Henri lachte über den Eifer der drei, vor allem über das lustige Gestell mit den Gläsern, aber nach einer Weile fühlte er sich ausgeschlossen. Darum beschloss er, nach Bordeaux zu reiten, obwohl ihm die drei Gelehrten dringend von diesem Wagnis abrieten. Der Abt zitierte sogar aus dem 33. Kapitel der Ordensregeclass="underline" »Keiner soll nach eigenem Willen ausgehen.«

Henri kannte diese Ordensregel gut und ergänzte: »Die Oberen befehlen den Rittern eindringlich, dass sie sich nicht herausnehmen sollen, in die Stadt zu gehen, außer des Nachts zum Heiligen Grab.« Henri wies darauf hin, dass sich dieses Verbot auf Jerusalem bezog, wo die Ungläubigen eine Gefahr für christliche Ordensritter dargestellt hatten.

»Aber auch Bordeaux ist für dich nicht ungefährlich«, warf Theophilus ein, und Joshua nickte. »Jemand könnte dich erkennen.«

Der Abt fuhr fort, aus dem Kapitel zu zitieren, weil er glaubte, dass sich Henri durch die Ordensregeln am ehesten von seinem Ritt nach Bordeaux abhalten ließe. »Die, die so ausgehen, sollen nicht ohne Wächter, das heißt, nicht ohne einen Ritter oder Ordensbruder, weder des Tags noch des Nachts es unternehmen, den Weg zu beginnen.«

Aber Henri ließ sich nicht von seinem Plan abbringen.

In der Nacht vor seinem Aufbruch hatte es geregnet. Ein heftiger Wind zerrte an den noch kahlen Ästen. Das Wasser der Dordogne, lehmig und gelb, wälzte kleinere Baumstämme, einzelne Bretter und Bohlen vor sich her. Die mochten wohl von den kleinen Übergängen stammen, die sich die Bauern als Zugang zu ihren Gehöften angelegt hatten. Die Ufer des Flusses waren überspült, und die reißende Strömung trug nach und nach große Teile der mangelhaften Uferbefestigung mit sich davon. Sprudelnd stürzte sich der wilde Fluss durch die Felsschluchten. Erst jenseits des harten Vulkangesteins ließ das Gefälle nach, und der Fluss wurde breiter.

Henri hatte einen Höhenweg gewählt und die Orientierung verloren. Er zog seine Landkarte zu Rate und stellte fest, dass er sich nördlich der Stadt befand, an einem Punkt, an dem sich die Dordogne mit einem Fluss namens Garonne vereinigte, um dem Meer entgegenzuströmen. Ihm schien es das Beste zu sein, der Garonne zu folgen. Damit hatte er die richtige Entscheidung getroffen. Denn wie eine Mondsichel schmiegte sich die Garonne um die Stadt Bordeaux.

Warum nur hatte der Abt versucht, ihn von einem Besuch dieser Stadt abzuhalten? Vielleicht weil sich die Mönche in den zahlreichen Klöstern ringsum dem Anbau des Weines widmeten? Henri dachte wieder einmal an die Ordensregel, die es in das Belieben der Oberen stellte, ob er den Ordensbrüdern aus Barmherzigkeit gestattete, einen mit Wasser gemischten Wein zu trinken. Henri konnte sich nicht vorstellen, dass es diese Mönche hier angesichts der Fülle bei einem Becher belassen würden.

In der Stadt herrschte reges Treiben, denn es war Rossmarkt. Die Bauern der Umgebung hatten sich auf einem Platz in der Nähe des Stadttores versammelt. Weithin tönte ihr Geschrei, mit dem sie ihre Rösser als edle Zuchttiere anpriesen, von denen manche wie elende Klepper wirkten. Henri blieb stehen und verfolgte eine Kaufverhandlung, die in eine Prügelei auszuarten drohte.

Plötzlich hatte er das Gefühl, von der anderen Seite des Platzes angestarrt zu werden. Aber als er den Blick erwidern wollte, war da niemand bis auf einen Bauern, der die Hufe seines Pferdes reinigte. Weil Henri diese ärmliche Gestalt nicht als Bedrohung empfand, näherte er sich dem Bauern und richtete das Wort an ihn. »Steht dieses Ross hier zum Verkauf?«

»Verzeiht, Herr, leider nein. Ich habe es soeben erst selbst ersteigert«, antwortete der Bauer höflich.

Irrte er sich, oder hatte die Stimme des ärmlich gekleideten Mannes ängstlich geklungen? Henri maß dem keine Bedeutung bei. Die Landbevölkerung lebte immer in Furcht vor Rittern und adeligen Herren.

Dennoch zog er es vor, den Rossmarkt zu verlassen, um die Kathedrale aufzusuchen. Damals, als er auf Knien für seine Rettung gedankt hatte, waren ihm nicht die steinernen Skulpturen aufgefallen: Apostel, Auferstehung, Jüngstes Gericht und Himmelfahrt. Er vertiefte sich in diese Figuren, bis er plötzlich deutlich spürte, dass jemand ihn beobachtete. Mit einem Sprung erreichte er den nächststehenden Gewölbepfeiler. Aber dort befand sich niemand. Er glaubte jedoch, im Dämmerlicht des Kirchenschiffes einen Schatten zu bemerken, der sich behände von Pfeiler zu Pfeiler fortbewegte. Nach kurzer Überlegung entschied er sich, die Kathedrale zu verlassen, um in der nahe gelegenen Basilika St. Seurin dem vermeintlichen Verfolger eine Falle zu stellen.

Er sah befriedigt, dass in dieser Basilika Amphoren, Grabdenkmäler und Sarkophage gute Verstecke abgaben. Laut ließ er das Eingangsportal hinter sich zufallen. Von seinem Beobachtungsposten hinter einem Grabmal bemerkte er, dass die Türe langsam wieder geöffnet wurde und eine schmale Gestalt hereinschlüpfte.

»Warte nur, Bäuerlein«, flüsterte er leise vor sich hin. »Dir werde ich gehörig das Fell gerben!« Er dachte sogar daran, den heimlichen Verfolger im Brunnen vor der Basilika so lange unterzutauchen, bis er seinen Auftraggeber genannt hätte. Mit Beschämung dachte er daran, dass er diese Foltermethode schon einmal bei einem Ungläubigen angewandt hatte.

Der heimliche Verfolger verhielt sich still. Anscheinend wollte er sich zunächst überzeugen, ob ihm keine Gefahr drohe. Henri hatte sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. So war es ihm möglich, die Umrisse der Gestalt zu erkennen, die nun fast lautlos an den Seitenaltären entlang schlich. Immer deutlicher erkennbar näherte sie sich seinem Versteck. Aber war das wirklich der Bauer, der ihn auf dem Rossmarkt so verdächtig angestarrt hatte? Vielleicht gab es einen zweiten Verfolger? Fast bereute er schon, dem Abt und der Ordensregel nicht gefolgt zu sein. Aber jetzt war keine Zeit mehr, über Fehler nachzudenken. Die dunkle Gestalt stand dicht vor dem Grabmal, hinter dem er sich verborgen hatte.