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Wir blieben an unserem Tisch und redeten, während die Sonne unterging, und sie erzählte mir von Chris. Sie waren zusammen aufgewachsen – in gegenüberliegenden Wohnungen, Kinder im selben Alter, ohne Geschwister – und waren lange vor ihrem ersten Kuss beste Freunde gewesen; der kam, als sie sechs waren, wurde aber erst mit fünfzehn wiederholt. Er hatte eine Sammlung europäischer Comics, nach denen sie ganz verrückt waren, und sie verbrachten Stunden damit, sie zu Hause zu lesen und eigene zu machen: Chris zeichnete, Erica schrieb. Sie wurden beide in Princeton angenommen, aber er ging nicht hin, weil man bei ihm Lungenkrebs feststellte – er hatte eine Zigarette geraucht, sagte sie lächelnd, aber erst an dem Tag, nachdem er die Ergebnisse seiner Biopsie erhalten hatte –, und sie sorgte dafür, dass sie nie freitags Unterricht hatte, damit sie drei Tage die Woche bei ihm in New York sein konnte. Er starb drei Jahre später, am Ende des Frühjahrssemesters ihres vorletzten Jahres. »Ich vermisse also auch irgendwie mein Zuhause«, sagte sie, »nur dass mein Zuhause ein Typ mit langen, dünnen Fingern war.«

Abends gingen wir dann mit der Gruppe essen, und Erica setzte sich mir gegenüber. Chuck brachte uns alle zum Lachen, indem er uns mit unglaublicher Treffsicherheit imitierte – meine Manierismen fand ich etwas übertrieben dargestellt, aber die der anderen trafen genau ins Schwarze –, dann ging er um den Tisch herum und forderte jeden auf, seinen Traum preiszugeben, was er am liebsten sein wollte. Als ich an die Reihe kam, sagte ich, ich hoffte, eines Tages Diktator einer islamischen Republik mit Nuklearpotenzial zu sein; die anderen schienen schockiert, und ich sah mich zu der Erklärung gezwungen, dass ich bloß einen Witz gemacht hatte. Nur Erica lächelte; offenbar verstand sie meinen Humor.

Erica sagte, sie wolle Schriftstellerin werden. Ihre Abschlussarbeit war ein langes literarisches Werk gewesen, mit dem sie in Princeton einen Preis gewonnen hatte; sie plante, es zu überarbeiten und es dann Literaturagenten zu geben und zu sehen, wie sie es fanden. Normalerweise erzählte Erica wenig von sich, und als sie es an dem Abend tat, senkte sie etwas die Stimme und sah dabei häufig mich an. Trotz der Anwesenheit unserer Gefährten, deren Aufmerksamkeit sie, wie immer, auf sich zog, hatte ich das Gefühl, dass sie mit mir eine Vertrautheit teilte, und dieses Gefühl wurde noch stärker, als sie mir unaufgefordert half, nachdem sie gesehen hatte, wie ich mich abmühte, das Fleisch von den Gräten meines Fischs zu trennen.

Körperlich war nichts zwischen mir und Erica in Griechenland; nicht einmal Händchen hielten wir. Aber sie gab mir ihre Nummer in New York, wohin wir beide zurückflogen, und sie bot mir an, mir bei der Eingewöhnung zu helfen. Was mich betraf, so war ich zufrieden: Ich hatte Bekanntschaft mit einer Frau geschlossen, in die ich wirklich und wahrhaftig verknallt war, und meine Begeisterung angesichts der Abenteuer, die mein neues Leben für mich bereithielt, war nie ausgeprägter gewesen.

Aber was ist das? Ah, Ihr Handy! So eines habe ich noch nie gesehen; das ist wohl so ein Modell, mit dem man über Satellit kommunizieren kann, wenn man in einem Funkloch ist. Wollen Sie nicht drangehen? Ich versichere Ihnen, Sir, ich werde mein Möglichstes tun, wegzuhören. Aber offenbar schreiben Sie lieber eine SMS, sehr klug: Häufig sind ein paar Worte mehr als genug. Ich warte gern, bis Sie fertig getippt haben. Schließlich haben die Mädchen von der Staatlichen Kunstakademie gerade erst ihren Tee ausgetrunken, und wir werden das Vergnügen ihrer Anwesenheit auf dieser Straße noch etwas länger haben, bis sie – was zwangsläufig geschehen wird – um die Ecke dort verschwunden sind.

3

Wir Einheimischen schätzen diese letzten Tage dessen, was man hier in Lahore unter Frühling versteht; die Sonne ist zwar heiß, hat aber einen beruhigenden Effekt. Oder hat, wie ich wohl sagen sollte, einen beruhigenden Effekt auf uns, denn Sie, Sir, scheinen sich noch immer unwohl zu fühlen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich das sage, aber die Häufigkeit und Beharrlichkeit, mit der Sie sich umschauen – wenn Sie den Blick von einem Punkt zum nächsten lenken, scheint es in Ihrem Kopf unablässig tick-tick-tick zu machen –, erinnert an das Verhalten eines Tiers, das sich zu weit von seinem Bau entfernt hat und nun in der unvertrauten Umgebung nicht recht weiß, ob es Jäger oder Beute ist!

Wollen Sie sich nicht endlich mal von Ihrem Ausländergefühl verabschieden, sich beobachtet zu fühlen? Schauen Sie lieber, wie lang die Schatten geworden sind. Bald werden die Tore an beiden Enden des Markts für den Verkehr geschlossen, dann wird aus Alt-Anarkali eine autofreie Piazza. Sie haben sogar schon damit begonnen. Ob die Polizei die Jungs da auf ihren Motorrollern verhaftet?

Aber nur, wenn sie sie erwischen! Und da flitzen sie schon davon und sind entkommen. Aber sie werden die Letzten sein. Jetzt schließen sie die Tore, wie Sie sehen, und die verbleibenden Lücken sind zu schmal für alles, das breiter ist als ein Mensch.

Sie werden bemerkt haben, dass die neueren Viertel von Lahore den Bedürfnissen derer, die zu Fuß gehen müssen, nicht entsprechen. Mit ihrer Weitläufigkeit, ihren öffentlichen Parkanlagen und den breiten, baumgesäumten Boulevards erzwingen sie eine alte Hierarchie, die vom Land zu uns kommt: die Überlegenheit des Mannes zu Pferde gegenüber dem zu Fuß. Hier aber, wo wir sitzen, und in den noch älteren Vierteln, die zwischen uns und dem Fluss Ravi liegen – das überfüllte, labyrinthartige Herz der Stadt –, ist Lahore demokratischer und urban. Dort nämlich ist der Mensch mit vier Rädern gezwungen auszusteigen und Teil der Menge zu werden.

Wie Manhattan? Ja, genau! Und das war auch einer der Gründe, weshalb der Umzug nach New York – ganz unerwartet – so etwas wie eine Heimkehr war. Aber es gab auch noch andere Gründe: dass Taxifahrer Urdu sprachen, dass es nur zwei Blocks von meiner Wohnung im East Village ein Lokal namens Pak-Punjab Deli gab, wo man Samosa und Channa servierte, dass ich zufällig über die Fifth Avenue ging und aus Lautsprechern, die auf einem Festwagen der South Asian Gay and Lesbian Association standen, ein Lied hörte, zu dem ich auf der Hochzeit meines Vetters getanzt hatte.

In einem U-Bahn-Wagen fiel meine Haut normalerweise in die Mitte des Farbenspektrums. An Straßenecken fragten mich Touristen nach dem Weg. In den viereinhalb Jahren war ich nie Amerikaner, aber sofort New Yorker. Wie? Warum ich meine Stimme hebe? Sie haben recht, ich werde leicht emotional, wenn ich an diese Stadt denke. Sie nimmt noch immer einen Platz von großer Zuneigung in meinem Herzen ein, was schon einiges ist, wenn man die Umstände bedenkt, unter denen ich nach nur acht Monaten von dort fortzog.

Sicher hatte viel von New Yorks Faszination mit meiner Begeisterung für Underwood Samson zu tun. Ich erinnere mich noch, wie ich staunte, als ich dort den Dienst antrat. Die Büroräume lagen im 41. und 42. Stockwerk eines Hochhauses in Midtown – höher als die beiden höchsten Gebäude hier in Lahore, wenn man sie übereinanderstapeln würde –, und obwohl ich schon vorher im Flugzeug geflogen und im Himalaya gewesen war, hatte nichts mich auf das Drama, die Wucht des Ausblicks von ihrem Vorzimmer vorbereitet. Da wurde mir bewusst, dass es eine andere Welt als Pakistan war; meine Füße wurden von den Errungenschaften der technisch fortgeschrittensten Zivilisation getragen, die unsere Spezies je gekannt hatte.