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„Nein, meine Lieben, so geht es denn doch nicht! Sagt, wieviel Zeit habt ihr für den Weg hierher gebraucht?"

„Einen Monat", antwortete Kastaglio. „Jetzt werdet ihr ein Jahr dafür brauchen!" Urfin kehrte zu seinem Haus zurück, nahm die Schubkarre aus dem Schuppen, legte die Menschlein mit den Geschenken hinein und setzte sich in Trab. Die Zwerge strahlten vor Freude. Der Rückweg dauerte nur drei Tage. In Erwartung Urfin Juices und Ruf Bilans beschloß Arachna, ihre Hexenkunst zu überprüfen. Bevor sie den Kampf mit den Völkern des Zauberlandes begann, wollte sie sich überzeugen, ob sie noch alle ihre bösen Kräfe beisammen hatte. Der Leser hat wahrscheinlich nicht vergessen, daß Arachna sich nach Belieben in ein Pelztier, einen Vogel oder einen Baum verwandeln konnte...

Diese Verwandlungskunst war ihre wichtigste Waffe. Doch jetzt mußte sie feststellen, daß sie einiges verlernt hatte. Das war für sie ein schwerer Schlag. Wie dies geschehen konnte, sei hier erklärt: Der Zauberspruch war sehr kompliziert und lang und zudem streng geheim, und Arachna hatte ihn nicht aufgeschrieben, aus Furcht, er könnte Feinden in die Hände fallen. Während ihres Schlafs hatte sie den Spruch vergessen. Darüber muß man sich nicht wundern, denn ein Schlaf von fünftausend Jahren ist eben kein Mittagsschläfchen, bei einem solchen Schlaf kann man sogar den eigenen Namen vergessen. Die Zeit war vorbei, da Arachna im Kampf mit ihren Feinden sich in ein Eichhörnchen oder einen Löwen, in eine mächtige Eiche oder eine schnelle Schwalbe verwandeln konnte. Jetzt konnte die Hexe nur noch auf ihren riesigen Wuchs und ihre Körperkraft rechnen.

Arachna hatte auch noch andere Zauberkünste vergessen, doch was ihr geblieben war, reichte immerhin, um Böses zu stifen. Sie hatte es z. B. nicht verlernt, Erdbeben, Gewitter und andere Naturkatastrophen auszulösen.

,,Noch ist nicht alles verloren", beruhigte sich die Hexe, als auf ihren Befehl vom Gipfel des Berges ein Felsen herabstürzte und beim Aufprall in tausend Stücke zerschellte. Ja, noch war die böse Arachna ein schrecklicher Gegner, vor dem man sich in acht nehmen mußte. Mittlerweile war Urfin mit seiner Schubkarre, in der sich die muntere Schar der Zwerge befand, in das Tal gekommen. Die winzigen Menschlein wiesen ihm den Eingang zur Höhle und liefen, so schnell sie konnten, zu ihren Häuschen, die in Büschen und hinter großen Steinen verborgen lagen. Kaum hatten sie ihre Türen erreicht, riefen sie die Kinderchen herbei, um ihnen die Geschenke des guten Onkels Urfin zu übergeben...

Hier muß ich die Feder beiseite legen, denn mir fehlen die Worte, den Jubel der Kinder auch nur annähernd zu beschreiben. In den Tausenden Jahren des Bestehens dieses Stamms der Zwerge hatten ihre Kinder noch nie solch entzückende Spielsachen gesehen. Urfin Juice betrat gemessenen Schritts die Höhle und verbeugte sich würdevoll vor der Hexe. „Ihr wolltet mich sprechen, was wünscht Ihr von mir?" fragte er. Er hatte den Zwergen versprochen, so zu tun, als wüßte er nicht, warum Arachna ihn gerufen hatte. Er verspürte keine Angst beim Anblick der riesigen Frau mit ihren drohend gefurchten buschigen Brauen. „Weißt du, wer ich bin?"

„Der ehrwürdige Zwerg Kastaglio hat mir über Euch erzählt." „Also weißt du, daß ich fünftausend Jahre geschlafen habe und jetzt nach Taten lechze! Vor allem ist es meine Absicht, das Zauberland zu unterwerfen, dann werde ich mich vielleicht auch auf die andere Seite der Berge begeben." Urfin schüttelte zweifelnd den Kopf mit dem angegrauten Haar. „Zweimal versuchte ich, das Zauberland zu unterwerfen, und Ihr wißt, wie es jedesmal endete", sagte Urfin ruhig.

„Du vergleichst dich mit mir, elender Wurm?" rief die Hexe verächtlich und reckte sich, daß ihr Kopf fast an die Decke stieß. „Mit Verlaub, Herrin", sagte Urfin unerschrocken, „ich habe gar nicht so unüberlegt gehandelt. Das erste Mal hatte ich eine mächtige Armee gehorsamer Holzsoldaten, das zweite Mal ein Heer von zweitausend kräftigen und flinken Marranen unter meinem Befehl. Und beide Male verlor ich. Herrin, ich habe im letzten Jahr viel nachgedacht und schließlich begriffen, daß es nicht so leicht ist, freie Völker zu unterwerfen..." „Wie, er will mir Moral predigen?" lachte Arachna schrill. „Mich dünkt, er billigt meine Absichten nicht und weigert sich, mir zu dienen."

„Ja, ich billige sie nicht und weigere mich! Das Leben hat mir vieles beigebracht, und jetzt möchte ich so lange zurückgezogen leben, bis die Menschen, die ich gekränkt habe, mir vergeben." „Geh, Elender, und vergiß unser Gespräch!" brüllte die Hexe. „Du wirst deine Weigerung noch bedauern! Ich wollte dich erheben, du aber hast deine Chance in den Wind geschlagen!"

Urfin verneigte sich und ging. Doch an der Schwelle blieb er stehen, drehte sich um und sagte:

„Ich fürchte, auf dem Kriegspfad werdet Ihr den Tod finden!" Arachna lächelte spöttisch. Wider Willen verspürte sie aber so etwas wie Achtung vor diesem kleinen Mann, der vor ihr, der mächtigen Zauberin, keine Angst hatte.

,,Ich hätte diesen Dickschädel mit Ehren überhäuf, hätte er eingewilligt, mir zu dienen", dachte die Hexe. „Man fühlt, daß dieser Mensch die Kraft besitzt, seinen Willen durchzusetzen... "

Auf der Wiese vor der Höhle erblickte Urfin Ruf Bilan, den eine Gruppe von Zwergen aus dem Unterirdischen Land geholt hatte. Der ehemalige König wandte sich von seinem ehemaligen ersten Minister verächtlich ab. „Dieser wird die verlockenden Angebote Arachnas bestimmt nicht ausschlagen", ging es Urfin durch den Kopf. Er täuschte sich nicht.

DIE VERSUCHUNG DES RUF BILAN

Als Urfin fortgegangen war, saß die Hexe lange brütend da. Dann schüttelte sie den gewaltigen Kopf und befahl, Ruf Bilan hereinzuführen, dessen Ankunft man ihr gemeldet hatte. Ruf Bilan duckte sich beim Betreten der Höhle so tief, daß er mit den Knien fast den Boden berührte. So schleppte er sich, das feiste Gesicht bleich vor Schreck, die Augen gesenkt und an allen Gliedern zitternd, bis vor die Hexe. „Bist du Ruf Bilan?" fragte Arachna.

„Ja, Herrin, der unterirdische Erzgräber hat gesagt, das sei mein Name", erwiderte Bilan mit bebender Stimme. „Aber ich kann mich nicht erinnern, was ich in meinem früheren Leben getan habe..." Er hatte seine Vergangenheit in der Tat ganz vergessen. Als die Zwerge ihn in der unterirdischen Höhle fanden, waren gerade zwei Tage seit seinem Erwachen aus dem langen Schlaf vergangen. Zu dieser Zeit hatte er gerade das Gehen und Sprechen erlernt, und seine Entwicklung erinnerte an die eines fünfjährigen Kindes. Der Erzgräber, den man ihm als Erzieher zugeteilt hatte, war noch nicht dazu gekommen, ihm zu erklären, was Gut

und was Böse ist. Die Zwerge hatten einen Augenblick abgewartet, an dem der Erzieher Ruf allein ließ, und ihn dann mit Naschwerk aus der Höhle gelockt. Als Bilan sie unterwegs fragte, wohin man ihn führe und was man mit ihm vorhabe, gaben sie keine Antwort. Beim Anblick der Riesin lief es ihm eiskalt über den Rücken. „Also hat man vor dir verheimlicht, daß du einst eine sehr hohe Stellung in deinem Heimatland einnahmst?" fragte die Hexe mit einem tückischen Lächeln.

„Davon weiß ich nichts, Herrin", antwortete Ruf unterwürfig, doch seinen Augen konnte man ablesen, daß sich in ihm ein Gefühl des Stolzes regte. Der scharfsinnigen Arachna entging es nicht, welchen Eindruck ihre Worte auf ihn machten, und im nächsten Augenblick war ihr Plan reif. „Kastaglio!" rief sie, „nimm den Mann zu dir und bringe ihm das Lesen bei. Gib ihm die Chronik und laß ihn darin lesen, was über sein Leben und seine Taten geschrieben steht. Sobald er sich an seine Vergangenheit erinnert, bringst du ihn wieder her."