Heute abend, sagte der Gouverneur, als man damit zu Ende war.
Soll manbei dem Toten wachen? fragte der Schließer.
Warum? Man schließt den Kerker, als ober lebte.
Hierauf entfernten sich die Tritte, die Stimmen wurden schwächer, das Geräusch der Tür mit ihrem knarrenden Schlosse und ihren ächzenden Riegeln ließ sich vernehmen. Ein Stillschweigen, düsterer als das der Einsamkeit, ergriff alles, selbst die erstarrte Seele des jungen Mannes. Dann hober sacht die Platte mit seinem Kopfe auf und warf einen forschendenBlick in die Zelle; sie war leer.
Der Friedhof des Kastells If
Auf demBett sah man einen Sack von grober Leinwand, unter dessen verworrenen Falten sich eine lange, steife Gestalt hervorhob. Somit war alles vorbei; Dantes konnte diese Augen nicht mehr sehen, die offen geblieben waren, als wollten sie über den Tod hinaus schauen; er konnte diese fleißige Hand nicht mehr drücken, die für ihn den Schleier verborgener Dinge gelüftet hatte. Faria, der gute, der hilfreiche Gefährte, an den er sich so innig angeschlossen hatte, war nur noch in seiner Erinnerung vorhanden. Da setzte er sich an den Kopf desBettes und versank in düstere, bittere Schwermut.
Allein! Er war wieder allein! Nicht einmal mehr der Anblick, nicht einmal mehr die Stimme des einzigen menschlichen Wesens, durch das er noch mit der Erde zusammenhing, war ihm, als einziger Trost, geblieben!
Wenn ich sterben könnte, sagte er, so ginge ich, wohin er geht, und würde ihn sicherlich finden. Aber wie sterben? Das ist sehr leicht, fuhr er spöttisch lachend fort. Ichbleibe hier, werfe mich auf den ersten, der eintritt, erdrossele ihn, und man guillotiniert mich.
Aber dabei den großen Schmerzen, wiebei den schweren Stürmen, der Abgrund sich zwischen zwei Wellengipfeln findet, schrak Dantes vor dem Gedanken an diesen entehrenden Tod zurück und ging plötzlich von seiner Verzweiflung zu einem glühenden Durst nach Leben und Freiheit über.
Sterben! Oh nein! Es lohnt sich nicht der Mühe, so viel gelebt, so viel gelitten zu haben, um jetzt zu sterben. Sterben, das war gut, als ich den Entschluß dazu faßte, früher, vor Jahren; doch nun hieße es wahrlich, mein elendes Geschick noch elender machen. Nein, ich will leben, ich willbis zum Ende kämpfen; ich will das Glück, das man mir gestohlen hat, wieder erringen. Ich vergaß, daß ich, ehe ich sterbe, meine Henker zubestrafen und, wer weiß, vielleicht auch einige Freunde zubelohnen habe; aber nun vergißt man mich hier, und ich werde meinen Kerker nur wie Faria verlassen.
Bei diesem WortebliebDantes unbeweglich, die Augen starr, wie ein Mensch, der von einem Gedanken erfaßt wird. Plötzlich stand er auf, fuhr mit der Hand nach der Stirn, als ober den Schwindel hätte, ging einigemal in der Zelle auf und abundbliebdann wieder vor demBette stehen. Als wollte er seinem Geiste keine Zeit lassen, den verzweifelten Gedanken, der ihn gepackt hatte, zu zerstören, neigte er sich über den häßlichen Sack, öffnete ihn mit dem Messer, das Faria gemacht hatte, zog den Leichnam heraus, trug ihn in seine Zelle, legte ihn auf seinBett, umwickelte den Kopf mit dem linnenen Fetzen, dessen er sich gewöhnlichbediente, bedeckte ihn mit seiner Decke, küßte zum letztenmale die eisige Stirn und drehte den Kopf gegen die Wand, damit der Schließer, wenn er das Abendbrotbrächte, glaube, er sei schlafen gegangen, wie er es oft getan hatte. Dann kehrte er in den Gang zurück, zog dasBett an die Wand, ging in das andere Zimmer, holte aus dem Schranke Nadel und Faden, warf seine Lumpen ab, damit man unter der Leinwand das nackte Fleisch fühle, schlüpfte in den ausgeleerten Sack, brachte sich in die Lage, die der Leichnam gehabt hatte, und schloß die Naht wieder von innen. Wäre jemand unglücklicherweise in diesem Augenblick eingetreten, so hätte er sein Herz schlagen hören können.
Dantes würde vielleichtbis nach dem Abendbesuche gewartet haben, aber er fürchtete, der Gouverneur möchtebis dahin seinen Entschluß ändern, und man könnte den Leichnam wegnehmen. Dann war seine letzte Hoffnung verloren. In jedem Falle war sein Plan nun festgestellt: Erkannten die Totengräber unterwegs, daß sie einen Lebendigen statt eines Toten trugen, so ließ ihnen Dantes keine Zeit, sich zubesinnen; mit einem kräftigen Messerschnitte öffnete er den Sack von obenbis unten, benutzte ihren Schrecken und entfloh; wollten sie ihn festnehmen, so wehrte er sich mit seinem Messer. Brachten sie ihnbis auf den Friedhof und legten ihn in ein Grab, so ließ er sich mit Erdebedecken; sobald hernach die Totengräber den Rücken gewendet hatten, machte er sich durch die weiche Erde Raum und entfloh. Er hoffte, das Gewicht der Erde würde nicht so groß sein, daß er sie nicht aufheben könnte. Täuschte er sich, war die Erde zu schwer und wurde er dadurch erstickt: destobesser, so war alles vorbei.
Dantes hatte seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen; am Morgen hatte er nicht an den Hunger gedacht, und er dachte auch jetzt noch nicht daran. Die erste große Gefahr, die ihm jedoch drohte, war, daß der Schließer, wenn er um sieben Uhr sein Abendbrotbrachte, die Verwechslung wahrnahm. Zum Glück hatte Dantes aus menschenfeindlicher Laune oder aus Müdigkeit sehr oft imBette gelegen, wenn der Schließer kam, und dann setzte dieser gewöhnlich dasBrot und die Suppe auf den Tisch und entfernte sich, ohne mit ihm zu sprechen. Aber diesmal konnte der Schließer gegen seine Gewohnheit mit Dantes sprechen wollen, und wenn er sah, daß dieser ihm nicht antwortete, sich demBette nähern und alles entdecken.
Als sieben Uhr abends herannahte, packte ihn wirklich die Angst. An das Herz gedrückt, suchte die eine Hand dessen Schläge zurückzudrängen, während die andre den Schweiß abwischte, der an den Schläfen herabrieselte; zuweilen durchlief ein Schauer seinen ganzen Körper und preßte ihm das Herz wie in einem eisernen Schraubstock zusammen. Dann glaubte er, er müsse sterben. Aber die Stunden verrannen, ohne eineBewegung im Kastell herbeizuführen, und Dantes erkannte, daß er dieser ersten Gefahr entgangen war. Das galt ihm als gutes Vorzeichen. Zu der vom Gouverneurbestimmten Stunde ließen sich endlich Tritte auf der Treppe hören. Edmond sah, daß der Augenblick gekommen war, raffte seinen ganzen Mut zusammen und hielt den Atem an sich… und wünschte nur, zugleich auch die hastigen Pulsschläge seiner Arterien zurückhalten zu können.
An der Tür machte der doppelte Tritt Halt, und Dantes sagte sich, daß es diebeiden Totengräber waren, die ihn holen sollten. Diese Mutmaßung verwandelte sich in Gewißheit, als er das Geräusch hörte, das siebeim Niederstellen der Tragbahre machten. Die Tür öffnete sich, ein verschleiertes Licht drang zu Dantes' Augen; durch die Leinwand, die ihnbedeckte, sah er, wie sich zwei Schatten seinemBette näherten. Ein dritterblieb, eine Stocklaterne in der Hand haltend, an der Tür. Jeder von denbeiden Männern, die sich demBett genähert hatten, faßte den Sack an einem Ende.
Der ist schwer genug für einen so magern Alten, sagte der eine, indem er ihnbeim Kopfe aufhob.
Man sagt, jedes Jahr werden die Knochen ein halbPfund schwerer, sagte der andre und faßte ihnbei den Füßen.
Hast du deinen Knoten gemacht? fragte der erste.
Es wäre dumm, wenn wir uns eine unnütze Last aufladen wollten, erwiderte der zweite, ich werde ihn unten machen.
Du hast recht, vorwärts!
Warum einen Knoten? fragte sich Dantes.
Man legte den vermeintlichen Toten vomBett auf die Tragbahre; Edmond machte sich steif, um die Rolle des Hingeschiedenenbesser zu spielen, undbeleuchtet von dem Manne mit der Stocklaterne, der vorausging, marschierte der Zug die Treppe hinab. Plötzlich überströmte Edmond die frische, scharfe Nachtluft, an der er den herrschenden Mistral (Nordwestwind im Mittelländischen Meere) erkannte. Die Träger machten ungefähr zwanzig Schritte, dannblieben sie still stehen und setzten die Tragbahre auf die Erde. Einer von ihnen entfernte sich, und Dantes hörte seine Schuhe auf den Platten dröhnen.