Wobin ich denn? fragte er sich.
Weißt du, daß er gar nicht leicht ist? sagte der, welcherbei Dantes geblieben war, und setzte sich auf den Rand der Tragbahre.
Dantes' erster Gedanke war, sich freizumachen; zum Glück hielt er an sich.
Leuchte mir doch, sagte der eine Träger, oder ich kann's nicht finden.
Der Mann mit der Stocklaterne gehorchte diesemBefehle.
Was sucht er denn? fragte sich Dantes. Vermutlich einen Spaten.
Ein Ausruf der Zufriedenheit deutete an, daß der Totengräber gefunden hatte, was er suchte.
Endlich, sagte der andre, das kostete Mühe.
Ja, aber er wirdbeim Warten nichts verloren haben.
Bei diesen Worten näherte er sich Edmond, der einen schweren schallenden Körper neben sich niederlegen hörte; zu gleicher Zeit umgabein Strick mit schmerzhaftem Drucke seine Füße.
Nun, ist der Knoten gemacht?
Und zwar gut gemacht, dafür steh' ich dir.
Und die Tragbahre wurde wieder aufgehoben und fortgeschleppt. Man machte ungefähr fünfzig Schritte, bliebabermals stehen, um eine Tür zu öffnen, und setzte sich dann wieder in Marsch; das Tosen der Wellen, die sich an den Felsenbrachen, woraus das Kastell gebaut ist, schlug immer deutlicher an Dantes' Ohr, je mehr man vorrückte.
Schlimmes Wetter! sagte einer von den Trägern, es wird heute nacht nicht gut in der See sein.
Ja, der Abbé läuft große Gefahr, naß zu werden, sagte der andre, und siebrachen in ein schallendes Gelächter aus.
Dantes verstand den Scherz nicht, aber seine Haare sträubten sich.
Gut! wir sind an Ort und Stelle, sagte der erste.
Weiter, weiter, rief der andere; du weißt noch, daß der letzte unterwegs an den Felsen zerschellt ist, und daß uns der Gouverneur am andern Tage gelaust hat.
Es ging noch fünfbis sechs Schrittebergan; dann fühlte Dantes, daß man ihnbeim Kopfe undbei den Füßen nahm und schaukelte.
Eins! sprachen die Totengräber, zwei! drei!
Zu gleicher Zeit fühlte sich Dantes wirklich in den ungeheuren leeren Raum geschleudert; er durchschnitt die Luft wie ein verwundeter Vogel und fiel immer tiefer mit einem Schrecken, der ihm das Herz starr machte. Obgleich sein rascher Flug noch durch irgend eine ziehende Gewaltbeschleunigt wurde, kam es ihm doch vor, als währte sein Sturz ein Jahrhundert. Endlich schoß er mit einem furchtbaren Getöse wie ein Pfeil in das kalte Wasser, das ihm einen, in demselben Augenblick durch die über ihm zusammenschlagenden Wellen unterdrückten Schrei auspreßte.
Dantes war ins Meer geschleudert worden, in dessen Tiefe ihn eine an seine Füße gebundene Kugel von 36 Pfund hinabzog, denn das Meer ist der Friedhof des Kastells If.
Die Insel Tiboulen
Betäubt, fast erstickt, hatte Dantes noch die Geistesgegenwart, seinen Atem zurückzuhalten, und da seine rechte Hand, für alle Fällebereit, sein Messer geöffnet hielt, so schlitzte er rasch den Sack auf und streckte zuerst den Arm und dann den Kopf heraus. Nun aber fühlte er sich, trotz seinerBemühungen, die Kugel aufzuheben, fortwährend hinabgezogen. Dabückte er sich, suchte den Strick, der seineBeine zusammenhielt und durchschnitt diesen mit äußerster Anstrengung gerade in dem Augenblick, wo er zu ersticken drohte. Hierauf stieg er mittels eines kräftigen Fußstoßes auf die Oberfläche des Meeres, während die Kugel in unbekannte Tiefen das grobe Gewebe hinabzog, das ihm zum Leichentuche hatte dienen sollen. Dantes nahm sich nur Zeit, Atem zu holen, und tauchte zum zweiten Male unter, denn es mußte seine erste Vorsichtsmaßregel sein, spähendenBlicken zu entgehen.
Als er zum zweiten Male erschien, war erbereits wenigstens fünfzig Schritte von dem Orte seines Sturzes entfernt; er sah über seinem Haupte einen schwarzen stürmischen Himmel, an dessen Oberfläche der Wind eilige Wolken hinpeitschte, während zuweilen ein sternbesätes Stück Himmel sichtbar wurde. Vor ihm dehnte sich die düstere, tosende Fläche aus, deren Wogen wiebeim Herannahen eines Sturmes zubrodeln anfingen, während hinter ihm, einem drohenden Gespenste ähnlich, der Granitriese sich erhob, dessen Spitze wie ein Arm anzuschauen war, der sich ausstreckte, seineBeute wiederzufassen. Auf dem höchsten Felsen erblickte er eine Stocklaterne, die zwei Schattenbeleuchtete. Es kam ihm vor, als neigten sich diese Schatten unruhig zum Meere herab. Die Totengräber mußten wirklich den Schrei gehört haben, den er ausgestoßen hatte. Er tauchte abermals unter und legte eine ziemlich lange Strecke unterm Wasser zurück.
Als er wieder auf die Oberfläche kam, war die Laterne verschwunden. Er mußte sich orientieren. Von den Inseln, die das Schloß If umgeben, liegen Ratonneau und Pomègue am nächsten; aber sie sindbewohnt. Die sichersten Inseln waren daher die unbewohnten, Tiboulen oder Lemaire, die jedoch eine starke Stunde vom Kastell If entfernt sind. Dantesbeschloß nichtsdestoweniger, eine von diesenbeiden Inseln zu erreichen. Aber wie sie mitten in der Nacht finden? In diesem Augenblick erblickte er das Feuer des Leuchtturms von Planir. Wenn er gerade auf diesen Leuchtturm zuhielt, ließ er die Insel Tiboulen etwas links; er mußte also die Insel auf seinem Wege finden. Freilichbetrug die Entfernung mindestens eine Meile, aber Dantes fand zu seiner Freude, daß ihm seine gezwungene Untätigkeit nichts von seiner Kraft undBehendigkeit genommen, und er fühlte, daß er noch Herr des Elementes war, in dem er sich schon als kleines Kind getummelt hatte. Die Furcht verdoppelte überdies seine Kräfte. So oft er sich auf der Spitze einer Woge erhob, umfaßte sein rascherBlick den sichtbaren Horizont und suchte in die dichte Finsternis zu tauchen. Es verging eine Stunde, während deren Dantes, vom Gefühl der Freiheitbegeistert, die Wellen in der gewählten Richtung zu durchschneiden fortfuhr.
Nun schwimme ichbald eine Stunde, sagte er zu sich selbst; doch da mir der Wind entgegenbläst, muß ich eine Viertelstunde zugeben. Ich kann indessen, wenn ich mich nicht in der Richtung getäuscht habe, jetzt nicht mehr fern von der Insel Tiboulen sein. Wenn ich mich aber getäuscht hätte?
Ein Schauer durchlief den Körper des Schwimmers. Er suchte sich einen Augenblick auf den Rücken zu legen, um auszuruhen, aber das Meer wurde immer heftiger, und er sah, daß dieses Erleichterungsmittel, auf das er gerechnet hatte, unmöglich war.
Nun gut! sagte er, ich werdebis ans Ende aushalten, bis meine Arme nachlassen und meineBeine erstarren; dann sinke ich auf den Grund.
Und er schwamm wieder mit der Kraft und dem Antriebe der Verzweiflung. Plötzlich kam es ihm vor, als obderbereits dunkle Himmel sich noch mehr verdüsterte, und als obeine dichte, schwere, gedrängte Wolke sich auf ihn herabsenkte. Zu gleicher Zeit fühlte er einen heftigen Schmerz am Knie, er streckte die Hand aus undberührte die Erde. Nun sah er, was der Gegenstand war, den er für eine Wolke gehalten hatte. Zwanzig Schritte vor ihm stieg eine Felsenmasse empor, es war die Insel Tiboulen.
Dantes fühlte Land unter seinen Füßen, er machte ein paar Schritte vorwärts und streckte sich mit unsäglichem Dank gegen Gott auf den Granitkanten aus, die ihm zu dieser Stunde weicher schienen, als ihm je das weichsteBett vorgekommen war. Dann entschlummerte er, trotz des Windes, trotz des Sturmes, trotz desbeginnenden Regens, völlig erschöpft durch die Anstrengung, und versank in den köstlichen Schlaf eines Menschen, dessen Körper erstarrt, dessen Seele aber imBewußtsein eines unerwarteten Glückes fortglüht. Nach einer Stunde erwachte Edmond wieder unter dem ungeheuren Krachen des Donners; der Sturm war entfesselt und peitschte die Luft mit seinem geräuschvollen Flügelschlage. Dantes hatte sich mit seinem Seemannsblicke nicht getäuscht; er war wirklich auf der Insel Tiboulen gelandet; er wußte aber auch, daß sie kahl und öde war und nicht den geringsten Zufluchtsortbot. NachBeendigung des Sturmes wollte er sich daher wieder in die See werfen und nach der zwar ebenfalls unfruchtbaren, aber viel größeren und deshalbgastlicheren Insel Lemaire schwimmen. Ein überhängender Felsbot ihm augenblicklichen Schutz: er flüchtete sich darunter, undbeinahe gleichzeitigbrach der Sturm in seiner ganzen Wut los. Edmond fühlte, wie der Fels zitterte, der ihnbeschirmte; am Fuße der riesigen Pyramide sichbrechend, sprangen die Wellenbis zu ihm herauf. Obgleich in Sicherheit, wurde erbei dem furchtbaren Tosen und denblendendenBlitzen von einer Art Schwindel ergriffen; nun erinnerte er sich auch, daß er seit 24 Stunden nichts gegessen, er hatte Hunger, er hatte Durst. Er streckte daher die Hände und den Kopf aus und trank das Wasser des Sturmes aus der Höhlung des Felsen.