Edmond war im Gefängnis klug geworden. Er hätte es daher gern unterlassen, mit anderen die Insel aufzusuchen und diese so möglicherweise zu Zeugen seines Glückes zu machen. Aber er fand kein anderes Mittel, auf die so sehr ersehnte Insel zu gelangen, als das, sich dahin führen zu lassen. Noch erwog er zögernd seinen Plan, als der Patron, der ein großes Vertrauen in ihn setzte und ihn in seinem Dienste zubehalten wünschte, ihn eines Abendsbeim Arme nahm und ihn in eine Taverne der Via del Oglio führte, wo sich der Rahm der Livorner Schmugglerwelt zu versammeln pflegte. Es handelte sich diesmal um ein größeres Unternehmen: man mußte für ein mit türkischen Teppichen und Stoffenbeladenes Schiff ein neutrales Gebiet finden, wo der Austausch statthaben konnte, und dann die Gegenstände auf die französische Küste zu werfen suchen. Der Patron der Amalie schlug als Ausschiffungsort die gänzlich verlassene Insel Monte Christo vor. Bei dem Namen Monte Christobebte Dantes vor Freude; er stand auf, um seineBewegung zu verbergen, und machte einen Gang durch die rauchige Taverne. Als man ihn um Rat fragte, meinte er, die Inselbiete alle mögliche Sicherheit, übrigens müßten große Unternehmungen, wenn sie gelingen sollten, schnell ausgeführt werden. Es wurde alsobeschlossen, bei Monte Christo vor Anker zu gehen und schon am folgenden Abend die Fahrt anzutreten.
Die Insel Monte Christo
Infolge eines unerwarteten Glücksfalles sollte also Dantes sein Ziel auf die einfachste und natürlichste Weise erreichen und den Fuß auf die Insel setzen, ohne irgend jemand Verdacht einzuflößen. Nur eine Nacht trennte ihn noch von der so sehr ersehnten Abreise. Diese Nacht war eine der fieberhaftesten, die Dantes je zugebracht hatte. Alle guten und schlimmen Möglichkeiten stellten sich abwechselnd vor seinen Geist. Wenn er die Augen schloß, sah er denBrief des Kardinals Spada in flammendenBuchstaben an die Mauer geschrieben; entschlummerte er einen Augenblick, so wirbelten die unsinnigsten Träume in seinem Gehirn umher: er stieg in Grotten, die mit Smaragden gepflastert waren, mit Wänden von Rubinen und Säulen von Diamanten; die kostbarsten Perlen fielen Tropfen auf Tropfen wie sickerndes Wasser herab. Entzückt, geblendet, füllte Edmond seine Taschen mit Edelsteinen; dann kehrte er an das Tageslicht zurück, und die Edelsteine hatten sich in einfache Kiesel verwandelt. Bald versuchte er es, abermals in diese nur halbdurchforschten Höhlen einzudringen, doch der Weg krümmte sich in endlosen Schneckenlinien, und der Eingang war wieder unsichtbar geworden. Vergeblich suchte er in seinem Gedächtnis das magische, geheimnisvolle Wort, das dem arabischen Fischer die glänzenden Höhlen von Ali‑Baba öffnete. Alles war fruchtlos; der verschwundene Schatz war wieder das Eigentum der Erdgeister geworden, denen er ihn zu entreißen gehofft hatte.
Der Tag kambeinahe ebenso fieberhaft, wie es die Nacht gewesen war; aber er führte allmählich die geistige Klarheit herbei, und Dantes vermochte einen ihmbis jetzt unbestimmt vorschwebenden Plan festzustellen. Es kam der Abend, und mit dem Abend wurden Vorkehrungen zur Abreise getroffen. Diese Vorkehrungen waren für Dantes ein Mittel, seine Aufregung zu verbergen. Im Verlauf der Zeit hatte erbei seinen Gefährten ein solches Ansehen gewonnen, dass erbefehlen konnte, als ober der Herr des Schiffes wäre; und da seineBefehle stets klar, pünktlich und leicht ausführbar waren, so gehorchten ihm seine Gefährten mit Eilfertigkeit und Vergnügen. Der alte Seemann ließ ihn gewähren; er hatte ebenfalls Dantes' Überlegenheit über die andern Matrosen und über ihn selbst erkannt und sah in dem jungen Manne seinen natürlichen Nachfolger.
Um sieben Uhr abends verließ man den Hafen, und sie segelten gerade in dem Augenblicke um den Leuchtturm, als seine Feuer entzündet wurden; das Meer war ruhig. Dantes erklärte, es könne sich jeder schlafen legen, er würde das Steuer übernehmen. Aus der Einsamkeit wieder in die Welt geworfen, fühlte er von Zeit zu Zeit das gebieterischeBedürfnis nach der Einsamkeit. Diesmal wurde die Einsamkeit von seinen Gedankenbevölkert, die Nacht von seinen Illusionen erleuchtet und die Stille von seinen Gelöbnissen erfüllt.
Als der Patron erwachte, ging das Schiff unter allen seinen Segeln; es war kein Fetzen Leinwand darauf, der nicht vom Winde aufgeblasen wurde. Man machte mehr als dritthalbMeilen in einer Stunde. Die Insel Monte Christo wuchs am Horizont. Edmond übergabdas Schiff seinem Herrn und streckte sich ebenfalls in seiner Hängematte aus; aber trotz der schlaflosen Nacht vermochte er die Augen nicht eine Minute zu schließen. Zwei Stunden später stieg er wieder auf das Verdeck. Das Schiff umsegelte eben die Insel Elba. Manbefand sich auf der Höhe von Mareciano oberhalbder flachen grünen Insel Pianosa und sah am Azur des Himmels die von den glutvollen Strahlen der Sonne aufflammende höchsteBergspitze von Monte Christo sich erheben. Dantes hieß den Mann am Steuer das Ruder anBackbord legen, damit Pianosa rechtsbleibe; er hatteberechnet, daß auf diese Weise der Weg um zweibis drei Knoten abgekürzt werde. Gegen fünf Uhr abends hatte man die Insel vollkommen im Angesicht. Man unterschied vermöge der atmosphärischen Durchsichtigkeit, die der von den Strahlen der untergehenden Sonne durchfluteten Luft eigentümlich ist, bereits alle einzelnen Gegenstände aus Monte Christo in scharfen Umrissen.
Edmond verschlang hoffend undbange mit den Augen diese Felsenmasse, die in allen Farben der Abenddämmerung schimmerte. Um zehn Uhr landete man. Trotz seiner gewöhnlichen Selbstbeherrschung war Dantes nicht im stande, ansichzuhalten; er sprang zuerst ans Ufer.
Die Mannschaft der Amalie war mit der Insel vertraut; sie gehörte zu ihren gewöhnlichen Stationen. Dantes hatte sie zwarbei jeder seiner Reisen nach der Levante gesehen, war aber nie ans Land gestiegen. Er fragte Jacopo: Wo werden wir die Nacht zubringen?
AnBord der Tartane, antwortete der Matrose. Wären wir nichtbesser in den Grotten untergebracht? Ich kenne hier keine Grotten, sagte Jacopo.
Kalter Schweiß floß über Dantes' Stirn. Es gibt keine Grotten auf Monte Christo? fragte er.
Nein.
Dantesbliebeinen Augenblick ganzbetäubt; dann dachte er, die Grotten könnten seit kurzer Zeit durch irgend einen Zufall ausgefüllt, vielleicht gar aus Vorsicht vor dem Kardinal Spada verstopft worden sein. Es hing in diesem Falle alles davon ab, daß man die verlorene Öffnung wiederfand; sie in der Nacht zu suchen, war unnütz, und Dantes verschobdaher die Nachforschung auf den andern Tag. Ein Signal, das auf eine halbe Stunde in der See gegeben wurde, und das die Amalie sogleich erwiderte, deutete überdies an, daß der Augenblick, das Geschäft zubeginnen, gekommen war. Bald erschien das zweite Schiff, weiß und schweigsam, wie ein Gespenst, und ankerte eine Kabellänge vom Ufer. Sogleichbegann das Überladen.
Während der Arbeit stellte sich Dantes vor, welches freudige Hurra er seinenBegleitern mit einem einzigen Wort entlocken könnte, wenn er dem Gedanken lauten Ausdruck gäbe, derbeständig leise in seinem Ohre und in seinem Herzen widerhallte. Statt aber sein Geheimnis zu enthüllen, fürchtete er im Gegenteil nur das eine, er habe schon zuviel gesagt und durch sein Hin- und Hergehen, durch seine ängstlichenBeobachtungen und durch seine Unruhe Verdacht erregt. Unter diesen Umständen und für seinen Zweck war es noch ein Glück, daß die jahrelangen schmerzlichen Erlebnisse im Kastell If seinem Antlitz den unvertilgbaren Ausdruck tiefer Schwermut ausgeprägt hatten und die Strahlen von Heiterkeit, die zuweilen unter dieser Wolke hervorbrachen, glichen in der Tat nurBlitzen, welche die vorhergehende und nachfolgende Düsterkeit um so schärfer hervortreten ließen.
Kein einziger von seinen Genossen ahnte auch nur das geringste von Dantes Vorhaben, und als er am andern Tage, ein Gewehr, Pulver undBlei nehmend, das Verlangen äußerte, eine von den zahlreichen wilden Ziegen zu schießen, die man von Fels zu Fels springen sah, schriebman seinen Ausflug nur der Liebe zur Jagd zu. Jacopo alleinbat dringend, ihm folgen zu dürfen. Dantes wollte sich nicht widersetzen, aus Furcht, durch sein Widerstreben gegen dieBegleitung Verdacht zu erregen. Aber kaum war er eine Viertelstunde gegangen und hatte Gelegenheit gefunden, eine junge Ziege zu erlegen, so schickte er Jacopo mit ihr zu seinen Gefährten zurück, wobei er den Auftrag gab, siebraten zu lassen und ihm, wenn sie fertig wäre, durch einen Flintenschuß ein Zeichen zu geben. Einige getrocknete Früchte und eine Flasche Wein von Montepulciano sollten das Mahl vervollständigen. Dantes setzte seinen Weg, sich von Zeit zu Zeit umwendend, fort. Auf der Spitze eines Felsens angelangt, sah er tausend Fuß unter sich seine Gefährten, mit denen Jacopo wieder zusammengetroffen war, bereits emsig mit der Zubereitung eines Frühstücksbeschäftigt, das Edmonds Geschicklichkeit seinen leckersten Teil verdanken sollte.