An demselben Tage wurden die jungen Leute des fünften Stockes durch den Notar, der den Vertrag gemacht hatte, benachrichtigt, daß ihnen der neue Eigentümer eine Wohnung im ganzen Hause nach ihrer Wahl überlasse, ohne ihren Mietzins zu erhöhen, unter derBedingung, daß sie ihm die zwei Zimmer, die siebewohnten, abträten. Dieses seltsame Ereignisbeschäftigte acht Tage lang alleBewohner der Allées de Meillan und gabzu tausend Vermutungen Anlaß, von denen keine der Wahrheit entsprach. Noch mehr Aufregung und Unruhe erregte es aber, daß man den Lord Wilmore im Dorfe der Katalonier umhergehen und in ein armseliges Fischerhäuschen eintreten sah, wo er mehr als eine Stundeblieb, um Erkundigungen über verschiedene Personen einzuziehen, die tot oder seit fünfzehnbis sechzehn Jahren verschwunden waren.
Am andern Tage erhielten die Leute, bei denen er eingetreten war, eine ganz neue katalonischeBarke zum Geschenk, die mit Schleppnetzen und allem, was man sonstbedarf, ausgerüstet war. Gern hätten diebraven Leute dem großmütigen Geber gedankt, doch hatte man ihn, als er sie verließ, einem MatrosenBefehle geben, zu Pferd steigen und aus Marseille wegreiten sehen.
Das Wirtshaus zum Pont du Gard
An der Straße zwischenBeaucaire undBellegarde liegt mit der Rückseite nach der Rhone zu ein altes, verwahrlostes Gasthaus. Seit etwa acht Jahren wurde diese kleine Wirtschaft von einem Manne und einer Frau geführt, deren einzige Dienerschaft ein Stubenmädchen, genannt Toinette, und ein Hausknecht, namens Pacaud, bildeten, die indessen für dieBedürfnisse des Dienstes genügten, seitdem ein vonBeaucaire nach Aigues‑Mortes gegrabener Kanal der Landstraße den Frachtverkehr entzogen hatte.
Der Mann, der diese kleine Wirtschaft führte, war ungefähr vierzig Jahre alt, groß, mager und nervig, der wahre südliche Typus, mit seinen tiefliegenden, glänzenden Augen, seiner adlerförmigen Nase und seinen Zähnen, so weiß wie die eines fleischfressenden Tieres. Seine Haare waren, wie sein dichter, krauserBart, kaum mit etwas Grau vermischt, sein von Naturbräunlicher Teint hatte sich noch tiefer gebräunt, weil sich der arme Teufel vom Morgenbis zum Abend auf seiner Türschwelle aufzuhalten pflegte, um zu sehen, obihm nicht zu Fuß oder zu Wagen ein Kunde zukäme, eine Erwartung, in der er fast immer getäuscht wurde, indes er sich vor der sengenden Sonnenhitze nach der Weise der spanischen Maultiertreiber nur durch ein um den Kopf gewickeltes rotes Taschentuch zu schützen suchte. Dieser Mann war unser alterBekannter Gaspard Caderousse. Seine Frau sah im Gegenteilbleich und kränklich aus. In der Gegend von Arles geboren, war ihr Gesicht, obwohl die ursprünglichen Spuren derbekannten Schönheit ihrer Landsleutebewahrend, langsam unter dem Einfluß eines fastbeständigen Sumpffiebers verfallen. Sie hielt sich, fast immer vor Kälte zitternd, in ihrem im ersten Stocke liegenden Zimmer auf, entweder in einem Lehnstuhle ausgestreckt, oder an ihremBette lehnend, während ihr Mann an der Tür seine gewöhnliche Wachebezog, die sich um so länger ausdehnte, als ihn seine magere Ehehälfte, so oft er sich wieder mit ihr zusammenfand, mit ihren ewigen Klagen gegen das Schicksal verfolgte, die er gewöhnlich nur mit den philosophischen Worten erwiderte: Schweig, Carconte, Gott will es so!
Trotz dieser anscheinenden Fügsamkeit in dieBeschlüsse der Vorsehung darf man indessen nicht glauben, daß unser Wirt den armseligen Zustand nicht erkannte, in den ihn der elende Kanal vonBeaucaire versetzt hatte, und daß er unverwundbar gegen die ewigen Klagenblieb, mit denen ihn seine Frau verfolgte. Er war, wie alle Südländer, ein mäßiger Mensch und ohne großeBedürfnisse, aber eitel in äußeren Dingen. So ließ er in den Zeiten seines Wohlstandes nie eine Prozession vorübergehen, ohne sich dabei mit der Carconte zu zeigen, er in der malerischen Tracht des Südfranzosen, die die Mitte zwischen der des Andalusiers und des Kataloniers hält, sie in dem reizenden Gewande der Frauen von Arles, das Griechenland und Arabien entlehnt zu sein scheint. Allmählich aber waren Uhrketten, Halsbänder, tausendfarbige Gürtel, gestickte Leibchen, Samtwesten, Strümpfe mit zierlichen Zwickeln, bunte Gamaschen, Schuhe mit silbernen Schnallen verschwunden, und Caderousse, der sich nicht mehr in seinem ehemaligen Glanze zeigen konnte, hatte für sich und seine Frau Verzicht geleistet auf alles weltliche Gepränge, dessen freudiges Geräuschbis in sein armseliges Wirtshaus drang, das ihm mehr als Schirmdach, denn als Einnahmequelle diente.
Caderousse hatte sich seiner Gewohnheit gemäß am Morgen vor der Tür aufgehalten und seinen schwermütigenBlick von einem Stückchen kahlen Rasens, woraus ein paar Hühner kauerten, nach den Enden der öden Landstraße spazieren lassen, die einerseits nach Süden und anderseits nach Norden lief, als ihn plötzlich die spitzige Stimme seiner Frau seinen Posten zu verlassen nötigte. Er gingbrummend hinein und stieg in den ersten Stock hinauf, ließ aber nichtsdestoweniger seine Tür weit offen stehen, als wollte er die Reisenden einladen, ihn im Vorbeigehen nicht zu vergessen.
In dem Augenblick, wo Caderousse hineinging, näherte sich vonBellegarde her ein Reiter. Es war ein Priester mit schwarzem Rock und dreieckigem Hute, der vor der Tür anhielt. Der Reiter stieg ab, zog das Pferd am Zügel nach undband es an; dann schritt er, seine von Schweiß triefende Stirn mit einem roten Tuche abwischend, auf die Tür zu und tat mit dem eisernen Ende seines Stockes drei Schläge auf die Schwelle.
Sogleich erhobsich ein großer schwarzer Hund, bellend und seine weißen, scharfen Zähne zeigend. Alsdann erschütterte ein schwerer Tritt die hölzerne Treppe.
Hierbin ich! sagte Caderousse ganz erstaunt, hierbin ich. Willst du schweigen, Margotin. Fürchten Sie sich nicht, Herr, erbellt, aber erbeißt nicht. Was wünschen Sie, was verlangen Sie, Herr Abbé? Ich stehe zuBefehl.
Der Priester schaute den Mann ein paar Sekunden lang mit seltsamer Aufmerksamkeit an, er schien sogar seinerseits die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich lenken zu wollen; als er aber sah, daß die Züge des letzteren kein anderes Gefühl ausdrückten, als ein Erstaunen darüber, daß er keine Antwort erhielt, sagte er mit stark italienischem Ton: Sind Sie nicht Monsou Caderousse?
Ja, Herr, antwortete der Wirt noch mehr erstaunt, ichbin es in der Tat, Gaspard Caderousse, Ihnen zu dienen.
Gaspard Caderousse?… Ja… ich glaube, das ist der Vorname, nicht wahr, Sie wohnten einst in der Allée de Meillan, im vierten Stocke? — Ja.
Und Sie trieben dort das Gewerbe eines Schneiders?
Ja, aber die Sache nahm eine schlimme Wendung. Es ist so heiß in dem spitzbübischen Marseille, daß man sich dort am Ende gar nicht mehr kleiden wird. Doch was die Hitzebetrifft, wollen Sie sich nicht erfrischen, Herr Abbé?
Allerdings! geben Sie mir eine Flasche von Ihrembesten Wein, und wir nehmen dann, wenn's Ihnenbeliebt, das Gespräch wieder auf, wo wir es verlassen.
Um die Gelegenheit nicht zu versäumen, eine von den letzten Flaschen Cahors‑Wein, die ihmblieben, anzubringen, beeilte sich Caderousse, seinem Gast eine solche vorzusetzen. Als er nach Verlauf von fünf Minuten zurückkehrte, fand er den Abbé auf einem Schemel sitzend, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, während Margotin, der Frieden mit ihm gemacht zu haben schien, seinen fleischlosen Hals und seinen Kopf mit dem schmachtendem Auge auf dem Schenkel des Priesters ausstreckte.
Sie sind allein? fragte der Abbé seinen Wirt, während dieser die Flasche und ein Glas vor ihn stellte.
Oh! mein Gott, ja, allein oderbeinahe so, denn ich habe eine Frau, die mich in nichts unterstützen kann, weil sie immer krank ist, die arme Carconte.
Ah! Sie sind verheiratet? sagte der Priester mit einer gewissen Teilnahme und warf einenBlick umher auf das elende Mobiliar des armseligen Haushalts.
Sie finden, daß ich nicht reichbin, nicht wahr? sagte Caderousse seufzend; aber was wollen Sie, um in dieser Welt zu gedeihen, genügt es nicht, ein ehrlicher Mann zu sein!