Der Abbé heftete einen durchdringendenBlick auf ihn.
Ja, ein ehrlicher Mann, dessen kann ich mich rühmen, sagte der Wirt, der denBlick des Abbés aushielt, und in unseren Zeiten kann das nicht jeder von sich sagen.
Destobesser, wenn Sie wahr reden, versetzte der Abbé; denn ich habe die Überzeugung, daß früher oder später der ehrliche Mannbelohnt und der schlechtebestraft wird.
Sie, als Priester, sagen dies wohl, Herr Abbé! versetzte Caderousse mitbitterem Ausdruck. Doch es steht jedem frei, nicht zu glauben, was Sie sagen.
Sie haben unrecht, daß Sie so sprechen, mein Herr; denn vielleicht werde ich selbst für Sie derBeweis dessen sein, was ichbehaupte.
Wie soll ich das verstehen? fragte Caderousse mit erstaunter Miene.
Ich muß mich vor allem versichern, daß Sie wirklich der sind, den ich suche.
WelcheBeweise soll ich Ihnen geben?
Haben Sie im Jahre 1814 oder 1815 einen Seefahrer namens Dantes gekannt?
Dantes! Obich ihn gekannt habe, den armen Edmond! Ich glaube wohl; er war sogar einer meinerbesten Freunde! rief Caderousse, dessen Gesicht Purpurröte überströmte, während sich das klare, sichere Auge des Abbés zu erweitern schien.
Ja, ich glaube, er hieß wirklich Edmond.
Was ist aus dem armen Edmond geworden, mein Herr? fuhr der Wirt fort; haben Sie ihn vielleicht gekannt? Lebt er noch, ist er frei? Ist er glücklich?
Er ist im Gefängnis gestorben, elender und verzweiflungsvoller, als die Galeerensklaven, die ihre Kugel in demBagno von Toulon schleppen.
Eine Totenblässe überflog Caderousses Antlitz. Er wandte sich um, und der Abbé sah, wie er eine Träne mit einer Ecke seines roten Tuches trocknete.
Armer Kleiner, murmelte Caderousse. Das ist abermals einBeweis von dem, was ich Ihnen sagte, Herr Abbé, daß nämlich der gute Gott nur für die Schlechten gut sei. Oh, diese Welt wird immer schlechter.
Sie scheinen diesen Jungen von ganzem Herzen liebgehabt zu haben? fragte der Abbé.
Oh! ich liebte ihn ungemein, obgleich ich mir vorzuwerfen habe, daß ich ihn einen Augenblick um sein Glückbeneidete. Aber seitdem, das schwöre ich Ihnen, so wahr ich Caderousse heiße, habe ich sein unseliges Geschick sehrbeklagt.
Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein, während dessen der festeBlick des Abbés nicht eine Sekunde diebewegliche Physiognomie des Wirtes zu erforschen aufhörte. Und Sie haben ihn also gekannt, den armen Kleinen? fuhr Caderousse fort.
Ich wurde an sein Sterbebett gerufen, um ihm die letzten Tröstungen der Religion zubieten.
Und woran starber? fragte Caderousse mit halberstickter Stimme.
Woran stirbt man im Gefängnis im Alter von dreißig Jahren, wenn nicht am Gefängnis selbst?
Caderousse trocknete den Schweiß ab, der von seiner Stirn floß.
Das Seltsamstebei alledem ist, fuhr der Abbé fort, daß mir Dantes auf seinem Sterbebettebei dem Christus, dessen Füße er küßte, wiederholt schwur, er wisse die wahre Ursache seiner Gefangenschaft gar nicht.
Das ist richtig, murmelte Caderousse, er konnte sie nicht wissen; nein, Herr Abbé, der Kleine log nicht.
Darumbeauftragte er mich, sein Unglück aufzuklären, was er nie selbst zu tun imstande gewesen war, und sein Andenken zu reinigen, wenn ein Flecken darauf ruhte.
Und derBlick des Abbés wurde immer starrer und verschlang fast den düstern Ausdruck, der auf Caderousses Antlitz hervortrat.
Ein reicher Engländer, fuhr der Abbé fort, sein Unglücksgefährte, der das Gefängnisbei der zweiten Restauration verließ, warBesitzer eines Diamanten von großem Werte. Als er von Dantes, der ihn während einer Krankheit, die er ausgestanden, wie einBruder gepflegt hatte, Abschied nahm, wollte er ihm einenBeweis seiner Dankbarkeit zurücklassen und gabihm diesen Diamanten. Statt sich desselben zubedienen, um die Gefängniswärter zubestechen, die den Edelstein ja nehmen und ihn hernach verraten konnten, bewahrte er ihn stets als ein kostbares Kleinod, falls er aus dem Gefängnis käme, denn wenn ihm dies gelang, so war sein Glück durch den Verkauf dieses Diamanten allein gesichert.
Es war also, wie Sie sagen, ein Diamant von großem Werte? fragte Caderousse mit glühenden Augen.
Allesbeziehungsweise, erwiderte der Abbé; er war für Edmond von großem Werte; man hat den Stein auf fünfzigtausend Franken geschätzt.
Fünfzigtausend Franken! rief Caderousse; er war also so groß wie eine Nuß?
Nein, nicht ganz; doch Sie mögen selbst urteilen, ich habe ihnbei mir. Und der Abbé zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral von schwarzem Saffianleder, öffnete es und ließ vor Caderousses geblendeten Augen den herrlichen Stein funkeln, der in einen Ring vonbewunderungswürdiger Arbeit gefaßt war.
Und das ist fünfzigtausend Franken wert? fragte Caderousse gierig.
Ohne die Fassung, die auch ihren Preis hat, sagte der Abbé, machte das Futteral zu und steckte den Diamanten, der in Caderousses Phantasie fortfunkelte, in seine Tasche.
Aber woherbesitzen Sie diesen Diamanten, Herr Abbé? fragte Caderousse; haben Sie ihn von Edmond?
Ja, als sein Testamentsvollstrecker. Ich hatte drei gute Freunde und eineBraut, sagte er zu mir; alle vier, ichbin überzeugt, beklagen michbitterlich; der eine dieser Freunde hieß Caderousse.
Caderoussebebte.
Der andere, fuhr der Abbé fort, ohne daß er Caderousses Erregung wahrzunehmen schien, hieß Danglars; der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls…
Ein teuflisches Lächeln entstellte Caderousses Züge, und er machte eineBewegung, um den Abbé zu unterbrechen.
Warten Sie, sagte der Abbé, lassen Sie mich vollenden, und wenn Sie etwas zubemerken haben, so können Sie es dann sogleich tun. Der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls und hieß Fernand; der Name meinerBraut war… Ich erinnere mich des Namens derBraut nicht mehr, sagte der Abbé.
Mercedes.
Ah! ja, versetzte der Abbé mit unterdrücktem Seufzen. DieBraut hieß Mercedes; ja, so ist es. Sie gehen nach Marseille… Verstehen Sie? So sprach Dantes.
Ich verstehe.
Sie verkaufen diesen Diamanten, Sie machen fünf Teile und geben sie diesen guten Freunden, den einzigen Wesen, die mich auf Erden geliebt haben.
Wie, fünf Teile? fragte Caderousse; Sie haben mir nur vier Personen genannt!
Weil die fünfte tot ist, wie ich erfuhr… Die fünfte war Dantes' Vater.
Ach! ja, sagte Caderousse, erschüttert durch die Leidenschaften, die sich in seinem Innern durchkreuzten; ach! ja, der arme Mann ist tot.
Ich habe das in Marseille erkundet, erwiderte der Abbé, der Mühe hatte, gleichgültig zu erscheinen; aber der Tod ist schon so lange erfolgt, daß ich über die näheren Umstände nichts erfahren konnte… Wissen Sie vielleicht etwas von dem Ende des Greises?
Ei! erwiderte Caderousse, wer kann dasbesser wissen, als ich?… Ich wohnte Tür an Tür mit dem guten Mann.
… Ei! mein Gott; ja, ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes starbder arme Greis!
Woran starber?
Die Ärzte nannten die Krankheit; er starb, glaube ich, an einer Art Magendarmentzündung; seineBekannten sagten, er sei vor Schmerz gestorben;… ich aber, der ich ihnbeinahe verscheiden sah, sage, er starb…
Woran? versetzte der Priester voll Angst.
Hungers!
Hungers? rief der Abbé, von seinem Schemel aufspringend; Hungers! Die schlechtesten Tiere sterben nicht Hungers; die Hunde, die in den Straßen umherirren, finden eine mitleidige Hand, die ihnen ein StückBrot zuwirft, und ein Mensch, ein Christ ist vor Hunger gestorben, mitten unter andern Menschen, die sich Christen nannten, wie er? Unmöglich! oh! das ist unmöglich!
Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, sagte Caderousse.