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Julie stieß einen leichten Schrei aus, wurde rot wie eine Kirsche und hielt sich am Geländer, um nicht zu fallen. Der Engländer entfernte sich mit einer Verneigung. Im Hofebegegnete er Penelon; dieser hatte eine Rolle von hundert Franken in der Hand und schien sich nicht entschließen zu können, das Geld fortzutragen.

«Kommt, Freund«, sagte der Engländer zu ihm,»ich habe mit Euch zu sprechen«.

Der fünfte September

Die von dem Mandatar des Hauses Thomson und French in dem Augenblick, wo es Morel am wenigsten erwartete, bewilligte Frist glaubte der arme Reeder als eine von jenen Wendungen des Geschickesbetrachten zu dürfen, die dem Menschen ankündigen, das Schicksal sei endlich müde geworden, ihn zu verfolgen. An demselben Tage erzählte er, was ihmbegegnet war, seiner Tochter, seiner Frau und Emanuel, und es kehrte ein wenig Hoffnung und Ruhe in die Familie zurück. Leider aber hatte es Morel nicht allein mit dem Hanse Thomson und French zu tun, das sich so nachsichtig gegen ihn zeigte.

Zum Unglück hatten, sei es aus Haß, sei es aus Verblendung, nicht alle Korrespondenten dieselbe Nachsicht. Die von Morel unterzeichneten Tratten wurden daher mit ängstlicher Strenge an der Kasse präsentiert, aber infolge der von dem Engländerbewilligten Frist ohne Verzugbezahlt von Cocles, der unverändert in seiner prophetischen Ruhe verharrte.

Der ganze Marseiller Handelsstand war der Meinung, nach den Unglücksfällen, die Herrn Morel hintereinander getroffen, könnte dieser sich nicht halten. Man staunte daher nicht wenig, als man sah, daß sein Monatsschluß sich mit der gewöhnlichen Pünktlichkeit abwickelte. Doch das Vertrauen kehrte darum nicht zurück, und man verschobeinstimmig auf das Ende des nächsten Monats die Insolvenzerklärung des unglücklichen Reeders.

Der ganze Monat verging in unerhörten Anstrengungen Morels, alle Mittel aufzubieten. Früher wurden seine Wechsel, auf welches Datum sie auch ausgestellt sein mochten, mit Vertrauen angenommen und sogar gesucht. Jetzt fand er alleBanken geschlossen, als er Papiere mit dreimonatiger Frist unterbringen wollte. Zum Glück hatte er jetzt einige Zahlungen zu erwarten, auf die er rechnen konnte, und die erwarteten Gelder gingen auch wirklich ein; Morel fand sich dadurch abermals in den Stand gesetzt, seinen Verbindlichkeiten zu entsprechen, als das Ende des Juli erschien.

Den Vertreter des Hauses Thomson und French hatte man übrigens nicht mehr in Marseille gesehen. Er war verschwunden, und da er in Marseille nur mit dem Maire, dem Gefängnisinspektor und Herrn Morel verkehrt hatte, so ließ seine Anwesenheit keine andere Spur zurück, als die verschiedenen Erinnerungen, die diese drei Personen von ihmbewahrten. Die Matrosen des Pharao hatten, wie es schien, irgend ein Unterkommen gefunden, denn sie waren ebenfalls verschwunden.

Von der Unpäßlichkeit, die ihn in Palma zurückgehalten hatte, wieder genesen, kehrte der Kapitän des Pharao, Herr Gaumard, bald nach Marseille zurück. Er zögerte, sichbei Morel zu zeigen, aber dieser erfuhr seine Ankunft und suchte ihn selbst auf. Der würdige Reeder hatte schon durch Penelons Erzählung von dem mutigenBenehmen des Kapitäns während des unglücklichen Ereignisses erfahren, und er suchte nun seinerseits den Seemann zu trösten. Erbrachte ihm denBetrag seines Soldes, den der Kapitän sonst nicht zu erheben gewagt hätte.

Der August verlief inbeständig erneuerten Versuchen Morels, seinen alten Kredit wiederzuheben und sich einen neuen zu eröffnen, ohne daß ihm dies gelang. Als aber der 31. kam, öffnete sich gegen alle Voraussicht die Kasse wie gewöhnlich. Cocles erschien hinter dem Gitter, ruhig, wie ein Gerechter, untersuchte mit gewohnter Gewissenhaftigkeit das Papier, das man ihm präsentierte, undbezahlte die Tratten von der erstenbis zur letzten mit gleicher Pünktlichkeit. Manbegriff dies durchaus nicht und verschobmit der den Unglückspropheten eigentümlichen Hartnäckigkeit denBankrott auf das Ende des September.

Morel war einige Tage in Paris gewesen und hatte versucht, bei seinem ehemaligen Rechnungsführer Danglars ein Anlehen aufzunehmen, doch auch dieses letzte Mittel, zu dem er sich nur schwer entschlossen hatte, schlug fehl. Schwer gedemütigt durch eine abschlägige Antwort, kam er zurück.

Er stießbei seiner Ankunft keine Klage aus, brachte keine Anschuldigung vor, umarmte nur weinend seine Frau und seine Tochter, reichte Emanuel freundschaftlich die Hand, ließ Cocles kommen und schloß sich mit diesem in sein Kabinett im zweiten Stock ein.

«Diesmal sind wir verloren«, sagten die Frauen zu Emanuel, und in einer kurzenBeratung, die sie unter sich pflogen, wurdebeschlossen, daß Julie an ihrenBruder, der in Nimes in Garnison lag, schreiben und ihn auffordern sollte, sogleich zu kommen. Die armen Frauen fühlten, daß sie aller ihrer Kräftebedurften, um den Schlag zu ertragen, der siebedrohte. Überdies übte Maximilian Morel, obgleich erst zweiundzwanzig Jahre alt, dochbereits einen großen Einfluß auf seinen Vater aus.

Er war ein energischer, rechtschaffner junger Mann, der die militärische Laufbahn erwählt hatte. Vorzüglich vorbereitet, trat er in die polytechnische Schule ein, die er, zum Unterleutnant im 53sten Linien‑Regiment ernannt, wieder verließ. Im Regiment galt Maximilian Morel als strenger, pflichtgetreuer Soldat; man nannte ihn nur den Stoiker.

Diebeiden Frauen täuschten sich nicht über das Mißliche ihrer Lage, denn einen Augenblick nachher, nachdem Herr Morel mit Cocles in sein Kabinett gegangen war, sah Julie den letzterenbleich, zitternd und mit völlig verstörtem Gesichte wieder herauskommen. Sie wollte ihn fragen, als er an ihr vorüberging, doch derbrave Mann lief mit einerbei ihm ungewöhnlichen Eile unaufhaltsam die Treppe hinabund rief ihr nur, die Hand zum Himmel erhebend, zu: Oh, mein Fräulein! Welch ein furchtbares Unglück, wer hätte das je gedacht!

Eine Minute nachher sah ihn Julie, mit ein paar dicken Handlungsbüchern, einem Portefeuille und einem Sacke Geld wieder hinaufgehen. Morel prüfte dieBücher, öffnete das Portefeuille und zählte das Geld. Allebaren Mittelbeliefen sich auf 7bis 8000 Franken, die Einnahmenbis zum 5. auf 4bis 5000, was also im höchsten Fall einen Aktivstand von 17 000 Frankenbildete, womit einer Tratte von 287 500 Franken entsprochen werden sollte. Eine solche Abschlagszahlung anzubieten, war nicht möglich.

Als jedoch Herr Morel zum Mittagsessen kam, schien er ziemlich ruhig. Diese Ruhe erschreckte die Frauen mehr, als es die tiefste Niedergeschlagenheit hätte tun können. Cocles schien ganz stumpfsinnig; er hielt sich einen Teil des Tages, auf einem Steine sitzend und mitbloßem Kopfebei dreißig Grad Wärme, im Hofe auf. Emanuel suchte die Frauen zu trösten; aber es mangelte ihm anBeredsamkeit. Der junge Mann war zu sehr in die Angelegenheiten des Hauses eingeweiht, um nicht zu fühlen, daß eine große Katastrophebevorstand. Es kam die Nacht; die Frauen wachten, in der Hoffnung, Morel würde, von seinem Kabinett herabkommend, bei ihnen eintreten, doch sie hörten, wie er, ohne Zweifel aus Furcht, man könnte ihn rufen, mit leisen Tritten an ihrer Tür vorüberschlich. Sie horchten; er kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür von innen.

Frau Morel hieß ihre Tochter schlafen gehen; eine halbe Stunde nach dem sich Julie entfernt hatte, stand sie auf, zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in den Gang, um zu sehen, was ihr Gatte machte. Im Gang erblickte sie einen Schatten, der sich zurückzog. Sie erkannte Julie, die, selbst unruhig, ihrer Mutter zuvorgekommen war. Julie ging auf ihre Mutter zu und sagte: Er schreibt.

Frau Morel neigte sich zum Schlüsselloch herab. Morel schriebwirklich; aber was ihre Tochter nichtbemerkt hatte, dasbemerkte Frau Morel; ihr Gatte schriebauf gestempeltes Papier. Es kam ihr der furchtbare Gedanke, er mache sein Testament; siebebte an allen Gliedern und hatte dennoch die Kraft, nichts zu sagen.