Der junge Mann dachte einen Augenblick nach, dann trat ein Ausdruck erhabener Resignation auf seinem Antlitz hervor; nur zuckte er mit einer langsamen, traurigenBewegung die Schulter.
Wohl, sagte er, Morel die Hand reichend, sterben Sie in Frieden, ich werde leben, mein Vater.
Morel warf sich seinem Sohne an dieBrust, Maximilian zog ihn an sich, und die zwei edlen Herzen schlugen einen Augenblick fest aneinander gepreßt.
Du weißt, daß es nicht meine Schuld ist, sagte Morel.
Maximilian lächelte.
Ich weiß, mein Vater, daß Sie der ehrlichste Mann sind den ich kennen gelernt habe.
Wohl, alles ist abgemacht; kehre nun zu deiner Mutter und zu deiner Schwester zurück!
Vater, sagte der junge Mann, die Kniebeugend, segnen Sie mich!
Morel nahm den Kopf seines Sohnes zwischen seine Hände und drückte wiederholt seine Lippen darauf.
Ja, ja, rief er, ich segne dich in meinem Namen und im Namen dreier Generationen vorwurfsfreier Menschen. Höre, was sie dir durch meine Stimme sagen: Das Gebäude, das das Unglück zerstört hat, kann die Vorsehung wieder aufbauen. Wenn sie mich einen solchen Tod sterben sehen, werden die Unerbittlichsten Mitleid mit mir haben; dir wird man vielleicht die Zeit gönnen, die man mir verweigert hat. Dann strebe vor allem danach, daß das Wort ehrlos nicht ausgesprochen werde; schreite zum Werke, arbeite, junger Mann, kämpfe heiß und mutig! Lebet, du, deine Mutter und deine Schwester, vom Notwendigsten, damit Tag für Tag das Gut derer, denen ich schuldigbin, wachse und unter deinen Händen Früchte trage! Bedenke, daß es ein schöner Tag, ein großer Tag, ein feierlicher Tag sein wird, der Tag, wo du in diesem Zimmer sagen wirst: Mein Vater ist gestorben, weil er nicht tun konnte, was ich heute tue, doch er ist ruhig und getrost gestorben, weil er wußte, ich würde es tun!
Oh! Vater, Vater, wenn Sie dennoch leben könnten!
Wenn ich lebe, ist alles verloren, wenn ich lebe, verwandelt sich die Teilnahme in Zweifel, das Mitleid in Erbitterung; wenn ich lebe, bin ich nur ein Mensch, der sein Wort gebrochen hat, der seiner Verbindlichkeit nicht nachgekommen ist; ichbin nichts anderes, als einBankerottierer. Sterbe ich dagegen, bedenke wohl, Maximilian, so ist mein Leichnam der eines unglücklichen, aber ehrlichen Mannes. Bleibe ich am Leben, so werden meinebesten Freunde mein Haus meiden. Bin ich tot, so folgt mir ganz Marseille weinend zu meiner letzten Ruhestätte. Lebe ich, so mußt du dich meines Namens schämen; sterbe ich, so erhebe stolz das Haupt und sprich: Ichbin der Sohn des Mannes, der sich getötet hat, weil er zum erstenmal im Leben sein Wort nicht halten konnte.
Der junge Mann stieß einen Seufzer aus, doch er schien sich zu fügen. Zum zweiten Male erfüllte die Überzeugung nicht sein Herz, aber seinen Geist.
Und nun laß mich allein, sagte Morel, und suche die Frauen zu entfernen!
Wollen Sie nicht meine Schwester noch einmal sehen? fragte Maximilian, indem er eine letzte, schwache Hoffnung auf diese Zusammenkunft setzte.
Herr Morel schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich habe sie heute morgen gesehen und ihr Lebewohl gesagt.
Haben Sie mir keinenbesonderen Auftrag zu erteilen, mein Vater? fragte Maximilian mitbebender Stimme.
Allerdings, mein Sohn, einen heiligen Auftrag.
Sprechen Sie, Vater!
Das Haus Thomson und French ist das einzige, das aus Menschlichkeit, vielleicht aus Selbstsucht — es kommt mir nicht zu, in den Herzen der Menschen zu lesen, — Mitleid mit mir gehabt hat. Sein Vertreter, der in zehn Minuten erscheinen wird, um denBetrag von 287 500 Franken in Empfang zu nehmen, hat mir drei Monate nichtbewilligt, sondern angeboten. — Dieses Haus werde zuerstbefriedigt, mein Sohn, dieser Mann sei dir heilig.
Ja, Vater.
Und nun noch einmal Lebewohl, mein Sohn; geh, geh, ich muß allein sein. Du findest mein Testament in dem Schreibpult in meinem Schlafzimmer.
Höre, Maximilian, sprach der Vater, als er sah, daß der Sohn immer noch zauderte, denke dir, ich sei Soldat, wie du, ich habe denBefehl erhalten, eine Schanze zu nehmen, und du wissest, ich müssebeim Erstürmen fallen, würdest du mir nicht sagen: Gehen Sie, Vater, denn Sie entehren sich, wenn Siebleiben, undbesser der Tod, als die Schande!
Ja, ja, sagte der junge Mann, Morel krampfhaft in seine Arme schließend; ja, gehen Sie!
Und er stürzte aus dem Kabinett.
Morelbliebein paar Sekunden, die Augen starr auf die Tür heftend, stehen; dann läutete er. Alsbald erschien Cocles, der seinem früheren Selbst nicht mehr glich; die drei letzten Tage hatten ihn gelähmt. Der Gedanke: das Hans Morel ist imBegriff, seine Zahlungen einzustellen, beugte ihn mehr nieder, als es zwanzig Jahre getan hätten.
Mein guter Cocles, sagte Morel mit einem Tone, dessen Ausdruck sich nichtbeschreiben läßt, du wirst im Vorzimmerbleiben. Wenn der Herr, derbereits vor drei Monaten hier gewesen ist, der Vertreter von Thomson und French, kommt, meldest du ihn. Cocles antwortete nicht; er machte ein Zeichen mit dem Kopfe, setzte sich in das Vorzimmer und wartete. Morel fiel in seinen Lehnstuhl zurück; seine Augen wandten sich nach der Pendeluhr; esblieben ihm nur noch sieben Minuten; der Zeiger rückte mit unglaublicher Geschwindigkeit vor; es schien ihm, er sehe ihn fortschreiten. Was nun in dem Geiste dieses Mannes vorging, der, noch jung, sich von allem, was er auf der Welt liebte, trennen und das Leben verlassen wollte, vermag keine Feder zu schildern; man hätte, um einenBegriff zubekommen, seine mit Schweißbedeckte und dennoch ruhige Stirn, seine von Tränenbefeuchteten und dennoch zum Himmel aufgeschlagenen Augen sehen müssen.
Der Zeiger rückte immer weiter vor, die Pistolen waren geladen; er streckte die Hand aus, ergriff eine und murmelte den Namen seiner Tochter; dann legte er die tödliche Waffe wieder nieder, nahm eine Feder und schriebein paar Worte. Es kam ihm vor, als hätte er seinem geliebten Kinde nicht genug Lebewohl gesagt; dann wandte er sich wieder nach der Pendeluhr… er zählte nicht mehr nach Minuten, sondern nach Sekunden. Er faßte abermals die Waffe, den Mund halbgeöffnet und die Augen starr auf den Zeiger geheftet; und erbebtebei dem Geräusch, das er selbst, den Hahn spannend, machte. Der Schweiß lief ihm immer kälter über die Stirn, immer tödlicher schnürte ihm die Angst das Herz zusammen; er hörte, wie die Tür der Treppe auf ihren Angeln knarrte und sich sodann die seines Kabinetts öffnete; die Pendeluhr war auf dem Punkte, die elfte Stunde zu schlagen.
Morel wandte sich nicht um, er erwartete von Cocles die Worte zu hören: Der Vertreter des Hauses Thomson und French! und näherte die Waffe seinem Munde. Plötzlich hörte er einen Schrei… es war die Stimme seiner Tochter.
Er kehrte sich um und erblickte Julie; die Pistole entglitt seinen Händen.
«Vater!«rief das Mädchen atemlos undbeinahe sterbend vor Freunde,»gerettet! Sie sind gerettet!«
Und sie warf sich, mit der Hand eine rote seideneBörse emporhaltend, in seine Arme.
«Gerettet, mein Kind?«sagte Morel,»was willst du damit sagen?«
«Ja, gerettet! Sehen Sie, sehen Sie!«
Morel ergriff dieBörse undbebte, denn eine dunkle Erinnerung sagte ihm, daß sie einst ihm gehört habe. Auf der einen Seite fand er die Tratte von 287 00O Franken; die Tratte war quittiert. Auf der andern gewahrte er einen Diamanten von der Größe einer Haselnuß, mit den auf ein Stück Pergament geschriebenen drei Worten: Mitgift für Julie.
Morel fuhr mit der Hand über seine Stirn; er glaubte zu träumen. In diesem Augenblick schlug die Pendeluhr die elfte Stunde. Der Klang durchbebte ihn, als objeder Schlag des stählernen Hammers an seinem eigenen Herzen widertönte.
Sprich, Kind, sagte Morel, erkläre dich! Wo hast du dieseBörse gefunden?
In einem Hause der Allées de Meillan, Nr. 15, auf der Ecke des Kamins eines armseligen Zimmers im fünften Stocke.