Die Gräfin war in der Tat sehr erregt, und Franz selbst konnte sich einem gewissen abergläubischen Schrecken nicht entziehen, der um so natürlicher erschien, als das, wasbei der Gräfin die Folge eines instinktartigen Eindrucks war, bei ihm durchbestimmte Erinnerungen hervorgebracht wurde. Er fühlte, daß sie zitterte, als sie in den Wagen stieg. Erbegleitete sie nach Hause; es war niemand da, und sie wurde nicht erwartet; Franz machte ihr darüber einen Vorwurf.
In der Tat, sagte sie zu ihm, ich fühle mich nicht wohl undbedarf der Einsamkeit; der Anblick dieses Menschen hat mich völlig verstört.
Franz versuchte zu lachen.
Lachen Sie nicht, sagte die Gräfin; Sie haben auch gar keine Lust dazu. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht sagen kann, wünschte ich zu erfahren, wer dieser Mann ist, woher er kommt und wohin er geht. Aber nun guten Abend! Schlafen Sie wohl, ich weiß, wer nicht schlafen wird.
Als Franz in den Gasthof kam, fand er Albert im Schlafrock eine Zigarre rauchend und wütend darüber, daß ihm der Hotelbesitzer wiederholt erklärt hatte, daß zu dem Karneval weder ein Wagen noch ein Fenster zum Zuschauen mehr zubekommen sei.
Auch Franzbedauerte lebhaft das Mißgeschick, als der Wirt nochmals eintrat und sagte: Der Graf von Monte Christo, der auf dem gleichen Stocke mit Ihnen wohnt, hat durch mich von der Verlegenheit, in der Sie sichbefinden, gehört undbietet Ihnen zwei Plätze in seinem Wagen und zwei an seinen Fenstern im Palaste Rospoli an.
Albert und Franz schauten einander ins Gesicht.
Können wir das Anerbieten eines Fremden, eines uns völlig unbekannten Mannes annehmen? fragte Albert.
Wer ist dieser Graf von Monte Christo? fragte Franz den Wirt.
Ein vornehmer Herr aus Sizilien oder Malta, ich weiß nicht genau, aber edel wie einBorghese und reich wie eine Goldmine.
In diesem Augenblick klopfte man an die Tür.
Auf Franzens Herein erschien ein Diener in sehr zierlicher Livree auf der Schwelle und sprach: Von dem Grafen von Monte Christo für Herrn Franz d'Epinay und den Herrn Vicomte Albert von Morcerf.
Und er reichte dem Wirte zwei Karten, die dieser den jungen Leuten zustellte.
Der Herr Graf von Monte Christo, fuhr der Diener fort, läßt die Herren um Erlaubnisbitten, sich ihnen als Nachbar morgen früh vorstellen zu dürfen; er wird die Ehre haben, sichbei den Herren erkundigen zu lassen, um welche Stunde sie zu sprechen sind.
Sagen Sie dem Grafen, antwortete Franz, wir werden die Ehre haben, ihm unsernBesuch zu machen.
DerBediente entfernte sich.
Das nenne ich mit Artigkeit erstürmen, rief Albert; Sie haben offenbar recht, Herr Wirt, Ihr Graf von Monte Christo ist ein Mann von derbesten Lebensart.
Das Anerbieten von zwei Plätzen an einem Fenster des Palastes Rospoli erinnerte Franz an das Gespräch, das er in den Ruinen des Kolosseums zwischen seinem Unbekannten und dem Trasteveriner gehört, wobei der Mann mit dem Mantel die Verbindlichkeit übernommen hatte, Begnadigung für einen Verurteilten zu erlangen. War aber der Mann im Mantel, wie Franz allem Anschein nach glauben mußte, derselbe, dessen Erscheinen im Theater Argentina ihn so sehr in Anspruch genommen hatte, so erkannte er ihn ohne Zweifel wieder, und nichts sollte ihn dann abhalten, seine Neugierde inBezug auf seine Person zubefriedigen.
Franzbrachte einen Teil der Nacht damit zu, daß er von dem zweimaligen Auftauchen des Grafen träumte und den andern Tag herbeiwünschte. Der andere Tag sollte wirklich alles aufklären, und diesmal — besäße sein Wirt von Monte Christo nicht den Ring des Gyges und damit die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen — würde er ihm sicherlich nicht entgehen. Er erwachte vor acht Uhr und ließ sogleich den Wirt rufen.
Herr Wirt, sagte er zu ihm, soll nicht heute eine Hinrichtung stattfinden?
Ja, aber wenn Sie mich fragen, um einen Platz dazu zubekommen, so wird es zu spät sein.
Wahrscheinlich werde ich nicht hingehen; doch möchte ich gern die Anzahl der Verurteilten, ihre Namen und die Art der Hinrichtung wissen.
Das trifft sich gut, Exzellenz, man hat mir soeben die Tavolette gebracht.
Was ist das: Tavolette?
Die Tavolette sind hölzerne Täfelchen, die man am Tage vor einer Hinrichtung an allen Straßenecken anhängt, und worauf die Namen der Verurteilten, der Grund ihrer Verurteilung und die Art ihrer Hinrichtung angegeben sind. Damit werden die Gläubigen aufgefordert, zu Gott zubeten, er möge den Schuldigen eine aufrichtige Reue verleihen. Ich will sie Ihnen gleich holen.
Einen Augenblick späterbrachte er Franz die Tafel. Auf dieser stand wörtlich:
Es wird hiermit männiglich zu wissen getan, daß Dienstag den 22. Februar am ersten Tage des Karnevals durch Spruch des Tribunals der Rota auf der Piazza del popolo Andrea Rondolo, schuldig des Mordes an der Person des hochwürdigen und hochverehrten Don Cäsar Torlini, Kanonikus der Kirche St. Giovanni in Laterano, und Peppino, genannt Rocca Priori, überwiesen der Genossenschaft mit dem verabscheuungswürdigenBanditen Luigi Vampa und den Leuten seinerBande, hingerichtet werden sollen. Der erste wird mazzolato (totgeschlagen) und der zweite decapitato (enthauptet). Mitleidige Seelen wollen Gott um aufrichtige Reue für diese unglücklichen Verurteiltenbitten.
Das war genau dasselbe, was Franz zwei Tage vorher in den Ruinen des Kolosseums gehört hatte. Somit war aller Wahrscheinlichkeit nach der Trasteveriner kein anderer, als derBandit Luigi Vampa, und der Mann im Mantel Simbad der Seefahrer, der in Rom, wie in Porto Vecchio und Tunis als Menschenfreund in den Gang der Gerichte eingriff.
Indessen war es neun Uhr geworden, und Franz schickte sich an, Albert zu wecken, als dieser zu seinem großen Erstaunen ganz angekleidet aus seinem Zimmer trat. Der Karneval ließ ihn nicht länger schlafen und hatte ihn früher auf dieBeine gebracht, als sein Freund dies hoffte.
Franz und Albert hatten, um zum Grafen von Monte Christo zu gelangen, dem sie ihre Aufwartung machen wollten, nur den Flur zu durchschreiten. Der Wirt ging voran und klingelte für sie; ein Diener öffnete, verbeugte sich undbedeutete durch ein Zeichen, sie möchten eintreten. Sie durchschritten zwei Zimmer, die mit einem Luxus ausgestattet waren, den sie in Pastrinis Gasthofe nicht vermutet hätten, und gelangten endlich in einen Salon von vollkommener Eleganz. Ein türkischer Teppich war auf demBoden ausgebreitet, und diebehaglichsten Möbel mit schwellenden Kissen und zurückgebogenen Lehnen luden zum Sitzen ein. Herrliche Gemälde hingen neben kunstvollen Waffen an den Wänden, und große gestickte Vorhänge wogten von allen Fenstern und Türen.
Wollen sich Eure Exzellenzen setzen, sagte der Diener, ich werde den Herrnbenachrichtigen. Und er verschwand durch eine der Türen.
Nun, fragte Franz seinen Freund, was sagen Sie zu all diesen Herrlichkeiten?
Meiner Treu, mein Lieber, unser Nachbar muß ein Wechselagent sein, der auf das Fallen der spanischen Papiere spekuliert hat, oder ein Fürst, der inkognito reist.
Still! Wir werden esbald erfahren, denn hier kommt er. Eine Tür öffnete sich, der Vorhang hobsich, und derBesitzer dieser Reichtümer erschien. Albert ging ihm entgegen, Franz aberbliebwie an seinen Platz genagelt.
Der Eintretende war kein andrer, als der Mann mit dem Mantel im Kolosseum, der Unbekannte der Loge, der geheimnisvolle Wirt von Monte Christo.
Mazzolalo
Meine Herren, sagte der Graf von Monte Christo eintretend, ichbitte Sie tausendmal um Entschuldigung, daß ich mir zuvorkommen ließ, aber ich fürchtete, wenn ich früherbei Ihnen erschiene, unbescheiden zu sein.
Franz und ich sind Ihnen den größten Dank schuldig, Herr Graf, erwiderte Albert; Sie entziehen uns in der Tat einer großen Verlegenheit.