Ei! mein Gott, erwiderte der Graf, indem er diebeiden jungen Männer ersuchte, sich auf einen Diwan zu setzen, es ist Pastrinis Fehler, wenn ich Sie so lange in Verlegenheit ließ; er sagte mir kein Wort von Ihrer mißlichen Lage, während ich nur eine Gelegenheit suchte, mit meinen NachbarnBekanntschaft zu machen. Sie haben auch gesehen, wie ich im ersten Augenblick, wo ich erfuhr, ich könnte Ihnen in irgend einerBeziehung nützlich sein, mit allem Eifer diese Veranlassung ergriff, um Ihnen meine Achtung zubeweisen.
Die jungen Leute verbeugten sich. Franz hatte noch kein Wort sprechen können, er hatte auch noch keinen Entschluß gefaßt, und da nichtsbei dem Grafen seinen Willen, ihn zu erkennen, oder den Wunsch, von ihm erkannt zu werden, andeutete, so wußte er nicht, ober mit irgend einem Worte auf die Vergangenheit anspielen, oder es der Zukunft überlassen sollte, ihm neueBeweise an die Hand zu geben. Völlig überzeugt, daß derselbe Mann am Tage vorher in der Loge gewesen, konnte er nicht ebensobestimmt dafür stehen, daß er zwei Tage vorher im Kolosseum verweilt hatte. Erbeschloß daher, die Dinge ihren Gang gehen zu lassen, ohne dem Grafen irgend einebestimmte Eröffnung zu machen. Überdies war er ihm in gewisserBeziehung überlegen, da er Herr seines Geheimnisses war. Mittlerweile wollte er jedoch das Gespräch auf einen Punktbringen, der einiges Licht in das Dunkel werfen könnte, und er sagte:
Herr Graf, Sie haben uns Plätze in Ihrem Wagen und an Ihren Fenstern im Palaste Rospoli angeboten, können Sie uns nun auch noch sagen, wie wir uns einen Platz auf der Piazza del popolo verschaffen?
Ah! das ist wahr, entgegnete der Graf mit zerstreuter Miene, zugleich aber Morcerf mitbesonderer Aufmerksamkeit anschauend, findet auf der Piazza del popolo nicht eine Hinrichtung oder dergleichen statt?
Ja, antwortete Franz, als er sah, daß der Graf von selbst dahin kam, wohin er ihnbringen wollte.
Ah! ich glaube, ich habe gestern meinen Intendantenbeauftragt, hierfür zu sorgen; vielleicht kann ich Ihnen noch einen kleinen Dienst leisten.
Er streckte die Hand nach einer Klingelschnur aus.
Es trat ein Mann von 50 Jahren ein, der fast aufs Haar dem Schmuggler glich, durch den Franz in die Grotte geführt wurde, der ihn aber durchaus nicht zu erkennen schien.
HerrBertuccio, sagte der Graf, haben Sie sich meinem Auftrag gemäßbemüht, mir ein Fenster auf der Piazza del popolo zu verschaffen?
Ja, Exzellenz, es ist das, welches vom Fürsten Lobanieff gemietet worden war; doch ich mußte hundert…
Gut, gut, HerrBertuccio, erlassen Sie uns dieseBerechnungen; Sie haben das Fenster, weiteres ist nicht nötig. Geben Sie dem Kutscher die Adresse des Hauses, und stellen Sie sich auf die Treppe, um uns zu führen!
Der Intendant verbeugte sich und machte einen Schritt, um sich zu entfernen.
Oh! fügte der Graf hinzu, tun Sie mir den Gefallen und fragen Sie Pastrini, ober die Tavoletta erhalten habe und ober mir das Programm der Hinrichtung schicken wolle.
Das ist nicht nötig, versetzte Franz, seine Schreibtafel aus der Tasche ziehend, ich habe den Zettel gelesen und kopiert; hier ist er.
Sie können gehen, HerrBertuccio, ichbedarf Ihrer nicht mehr. Man melde uns nur, wenn das Frühstück aufgetragen ist. Diese Herren, fuhr er, sich an diebeiden Freunde wendend, fort, werden mir die Ehre erzeigen, mit mir zu frühstücken?
In der Tat, Herr Graf, das hieße Ihre Güte mißbrauchen, erwiderte Albert.
Im Gegenteil, Sie machen mir ein großes Vergnügen; einer oder der andere von Ihnen, vielleichtbeide, vergelten mir das alles einmal in Paris.
Er nahm die Schreibtafel aus Franzens Händen und las mit einem Tone, als seien es» Kleine Anzeigen«, die unsbekannte Ankündigung von der Hinrichtung derbeiden Verurteilten. Ja, in der Tat, sagte er dann, so sollte die Sache anfangs vor sich gehen; aber ich glaube, seit gestern hat man sich zu einer Programmänderung entschlossen.
Bah! rief Franz.
Ja, gestern warbei dem Kardinal Rospigliosi, wo ich den Abend zubrachte, glaub' ich, die Rede von einem Aufschube, der einem von den Verurteiltenbewilligt sein soll.
Andrea Rondolo? fragte Franz.
Nein, dem andern, erwiderte gleichgültig der Graf, dem andern — er warf einenBlick auf die Schreibtafel, als suchte er sich des Namens zu erinnern — Peppino, genannt Rocca Priori. Sie verlieren also eine Guillotinierung, aber esbleibt Ihnen noch die Mazzolata, die eine interessante Art von Hinrichtung ist, wenn man die Sache zum erstenmal sieht, und selbst noch zum zweitenmal, während die andre, Ihnen jedenfalls auchbekannte Art, zu einfach, zu einförmig erscheint, um das Zuschauen zu lohnen. Oh! fügte der Graf verächtlich hinzu, reden Sie mir nicht von den Europäern, was Hinrichtungenbetrifft, sie verstehen nichts davon und stecken wahrhaftig in dieserBeziehung noch in den Kinderjahren oder vielmehr im Greisenalter.
In der Tat, Herr Graf, erwiderte Franz, man sollte glauben, Sie hätten das Hinrichtungsverfahrenbei den verschiedenen Völkern der Welt zum Gegenstand eines vergleichenden Studiums gemacht.
Es gibt wenige Arten, die ich nicht gesehen habe, antwortete kalt der Graf.
Und Sie fanden ein Vergnügen daran, so furchtbaren Schauspielenbeizuwohnen?
Mein erstes Gefühl war Widerstreben, mein zweites Gleichgültigkeit, mein drittes Neugierde.
Neugierde? Das Wort ist schrecklich!
Warum? Es gibt im Leben nur eine ernste Sache, die unser ganzes Wesen erfaßt, und das ist der Tod. Ist nun nicht das Studium anziehend, auf welch verschiedene Arten die Seele aus dem Leibe gehen kann, und wie nach den Charakteren, nach den Temperamenten und selbst nach den Sitten der Länder die einzelnen Menschen diesen Übergang vom Sein zum Nichts ertragen? Ich meinesteils stehe Ihnen für eines: je mehr man sterben gesehen hat, desto leichter wird es einem zu sterben; meiner Ansicht nach ist der Tod vielleicht eine Strafe, aber keine Sühne.
Ichbegreife Sie nicht ganz, sprach Franz.
Hören Sie, versetzte der Graf, und sein Gesicht unterlief sich mit Galle. Wenn ein Mensch durch unerhörte Qualen, unter endlosen Martern Ihren Vater, Ihre Mutter, Ihre Geliebte, kurz eines von den Wesen hätte sterben lassen, die, aus Ihrem Herzen gerissen, eine ewige Leere, eine stetsblutende Wunde darin zurücklassen, würden Sie die Genugtuung, die Ihnen das Gesetz durch die Guillotine gewährt, für hinreichend erachten, weil der, welcher Sie jahrelang moralische Leiden erdulden ließ, ein paar Sekunden lang körperliche Schmerzen ausgestanden hat?
Ja, ich weiß, versetzte Franz, die menschliche Gerechtigkeit ist als Trösterin ungenügend; sie kannBlut fürBlut vergießen, und mehr nicht; man muß nicht mehr von ihr verlangen, als sie zu tun vermag.
Und ich setze noch den Fall, wo die Gesellschaft, durch den Tod eines Menschen in der Grundlage angegriffen, worauf sieberuht, den Tod durch den Tod rächt. Gibt es aber nicht Millionen von Schmerzen, von denen die Eingeweide des Menschen zerrissen werden können, ohne daß sich die Welt nur im geringsten darum kümmert, und ohne daß sie ihm auch nur das ungenügende Mittel einer Rachebietet, von der wir soeben gesprochen haben? Gibt es nicht Verbrechen, für die der Pfahl der Türken, die Nervenzerrung der Irokesen noch zu gelinde Strafen wären, während sie die gleichgültige Gesellschaft völlig straflos läßt… antworten Sie mir, gibt es nicht solche Verbrechen?
Ja, versetzte Franz, und um sie zubestrafen, ist das Duell geduldet.
Ah! das Duell, rief der Graf, eine schöne Art, zu seinem Ziele zu gelangen, wenn das Ziel Rache ist. Es hat Ihnen ein Mensch Ihre Geliebte geraubt, Ihre Frau verführt, Ihre Tochter entehrt; er hat aus einem ganzen langen Leben ein Dasein des Schmerzes, des Elends oder der Schande gemacht, und Sie halten sich für gerächt, weil Sie diesem Menschen, der Ihnen Wahnsinn in den Geist, Verzweiflung ins Herz pflanzte, einen Degenstich in dieBrust gegeben oder eine Kugel vor den Kopf geschaffen haben? Abgesehen davon, daß er oft siegreich aus dem Kampfe hervorgeht, in den Augen der Welt rein gewaschen und von Gott gleichsam freigesprochen wird. Nein, nein, wenn ich mich je zu rächen hätte, würde ich mich nicht auf diese Art rächen.