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Nun konnte es Franz nicht mehr aushalten; er warf sich zurück und fiel halbohnmächtig in einen Lehnstuhl. Albertbliebmit geschlossenen Augen auf seinen Füßen, klammerte sich aber an den Vorhängen an, ohne deren Unterstützung er gewiß gefallen wäre.

Der Graf stand aufrecht und triumphierend wie der Racheengel.

Der Karneval in Rom

Als Franz zu sich kam, erblickte er Albert, der ein Glas Wasser trank, was er, nach seinerBlässe zu urteilen, sehr nötig hatte, und den Grafen, derbereits die Tracht einesBajazzo anlegte. Auf dem Platze war alles verschwunden, Schafott, Henker, Opfer; nur das geräuschvolle, geschäftige, lustige Volk war noch übrig; die Glocke des Monte‑Citorio, die nurbeim Tode des Papstes undbei der Eröffnung des Karnevals hörbar wird, ertönte in vollen Schwingungen.

Nun! fragte er den Grafen, was ist denn vorgefallen?

Nichts, durchaus nichts, wie Sie sehen, erwiderte der Graf; der Karneval hat nunbegonnen, und wir wollen uns ankleiden.

In der Tat, sagte Franz, von dieser ganzen furchtbaren Szene ist nichts mehr vorhanden, als die Spur eines Traumes.

Weil es nichts anderes ist, als ein Traum, ein Alp, den Sie gehabt haben.

Ja, ich, aber der Verurteilte?

Auch für ihn ist es ein Traum, nur ist er eingeschlafen geblieben, während Sie erwacht sind; und wer vermag zu sagen, welcher vonbeidenbesser daran ist?

Und Peppino, fragte Franz, was ist aus ihm geworden?

Peppino ist ein Mensch von Verstand und ohne alle Eitelkeit. Während sonst die Leute wütend darüber werden, wenn man sich nicht mit ihnenbeschäftigt, war er entzückt, als er sah, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit seinem Kameraden zuwandte; erbenutzte daher die Zerstreuung, um unter die Menge zu schlüpfen und zu verschwinden, ohne auch nur den würdigen Priestern, die ihnbegleitet hatten, zu danken. Der Mensch ist offenbar ein sehr undankbares und selbstsüchtiges Geschöpf… Doch kleiden Sie sich an! Sie sehen, Herr von Morcerf geht Ihnen mit gutemBeispiel voran.

Albert zog mechanisch seine Taffethose über seine schwarzenBeinkleider und seine Lackstiefel.

Nun, Albert, fragte Franz, sind Sie wirklich im Zuge, Karnevalstollheiten zubegehen? Sprechen Sie offenherzig.

Nein, aber es ist mir lieb, daß ich eine solche Szene gesehen habe, und ichbegreife nun, was der Herr Graf sagte. Hat man sich einmal an ein solches Schauspiel gewöhnen können, so ist es das einzige, das noch Aufregung gewährt.

Abgesehen davon, daß man in diesem Augenblick allein Charakterstudien machen kann, sagte der Graf. Auf der ersten Stufe des Schafotts reißt der Tod die Larve ab, die man das ganze Leben hindurch getragen hat, und das wahre Gesicht erscheint. Man muß gestehen, Andreas war nicht schön anzuschauen… der häßliche Schuft!.. Kleiden wir uns an, meine Herren! Ich fühle dasBedürfnis, Pappenmasken zu sehen, um mich über die Fleischmasken zu trösten.

Franz schämte sich, demBeispiel derbeiden andern nicht zu folgen. Er legte daher ebenfalls sein Kostüm an und nahm seine Maske, die sicher nichtbleicher war als er. Als alle drei mit der Toilette fertig waren, gingen sie hinunter. Der Wagen wartete vor der Tür, voll von Confetti und Sträußen. Man schloß sich der Reihe an.

Es läßt sich kaum ein vollständigerer Gegensatz denken, als der, welcher sich jetzt vollzogen hatte. Statt der düsteren, schweigsamen Todesszenebot die Piazza del popolo den Anblick einer tollen, brausenden Orgie. Eine Menge von Masken drängte von allen Seiten hervor, strömte aus allen Türen, stieg von allen Fenstern herab; mit Pierrots, Harlekins, Dominos, Marquis, mit Trasteverinern, Grotesken, Kavalieren undBauernbeladen, quollen die Wagen aus allen Straßenecken hervor, und alles schrie, gestikulierte, schleuderte Eier voll Mehl, Confetti, Sträuße, griff mit Worten und Geschossen Freunde und Fremde, Bekannte und Unbekannte an, ohne daß jemand das Recht hatte, sich darüber zu ärgern, ohne daß auch nur einer etwas anderes tat, als lachen.

Franz und Albert waren wie Menschen, die man, um sie von einem heftigen Kummer zu zerstreuen, zu einer Orgie führt, und die, je mehr sie trinken und sichberauschen, fühlen, wie sich ein immer dichterer Schleier zwischen die Vergangenheit und die Gegenwart zieht. Sie sahen immer noch den Wiederschein dessen, was sie geschaut hatten. Aber allmählich erfaßte sie doch die allgemeine Trunkenheit; es kam ihnen vor, als sei ihre schwankende Vernunft imBegriff, sie zu verlassen, sie verspürten in sich dasBedürfnis, an diesem Geräusch, an dieserBewegung, an diesem Schwindel teilzunehmen. Eine Handvoll Confetti (etwa erbsengroße Wurfkügelchen aus Gips), die Morcerf von einembenachbarten Wagen zuflog, prickelte ihn am Halse und an allen Teilen seines Gesichts, die nicht durch die Maske geschützt waren, als hätte man ihm hundert Nadeln zugeworfen, und dies zog ihn vollends in den allgemeinen Kampf hinein, in denbereits alle Masken verwickelt waren. Er erhobsich nun auch in seinem Wagen, schöpfte mit vollen Händen aus den Taschen und schleuderte mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Geschicklichkeit seine Geschosse gegen seine Nachbarn. Von nun an nahm der Kampf ununterbrochen seinen Fortgang. Die Erinnerung an das, was sie eine halbe Stunde zuvor gesehen, verwischte sichbei Franz und Albert völlig, so viel Abwechslungbot ihnen dasbuntscheckige, bewegliche, tolle Schauspiel, das sie vor sich hatten. Auf den Grafen von Monte Christo dagegen schien nichts einenbesonderen Eindruck hervorbringen zu können.

Man denke sich die große, schöne Straße des Korso, von einem Ende zum andern mit Palästen von vierbis fünf Stockwerken eingefaßt, derenBalkone insgesamt mit Teppichen verziert, deren Fenster alle reich drapiert sind, auf diesenBalkonen und an diesen Fenstern dreimal hunderttausend Zuschauer, Römer, Italiener, Fremde aus allen Weltteilen; alles Vornehme vereinigt: Aristokraten der Geburt, des Geldes und des Genies; reizende Frauen, die, von diesem Schauspiel hingerissen, sich über dieBalkone herabneigen, aus den Fenstern sichbeugen und auf die vorüberfahrenden Wagen einen Hagel von Confetti regnen lassen, auf den man ihnen mit Sträußen erwidert, bis die Luft ganz voll ist von herabfliegenden Dragées (Zuckerwerk) und hinaufsteigendenBlumen. Dazu auf der Straße eine freudige, rastlose, tolle Menge in den phantastischen Trachten und Gestalten: wandernde Kohlköpfe, Büffelköpfe, auf menschlichen Leibernbrüllend, Hunde, die auf den Vorderbeinen zu gehen schienen; und mitten darunter eine Maske, die sich lüftet, oder irgend eine Astarte, die ein reizendes Gesicht zeigt, von dem man aber, wenn man ihm folgen will, durch Dämonen getrennt wird, wie man sie nur in seinen Träumen sieht; — man versuche, sich das alles vereinigt vorzustellen, und man hat einen schwachenBegriff von dem, was der Karneval in Rom ist.

Bei der zweiten Fahrt ließ der Graf den Wagen halten, bat die Freunde um Erlaubnis, sie verlassen zu dürfen, und stellte die Kalesche zu ihrer Verfügung. Manbefand sich vor dem Palaste Rospoli, und an dem mittleren Fenster, woran der weiße Damastvorhang mit einem roten Kreuz angebracht war, stand ein Domino, unter dem sich Franzens Einbildungskraft ohne Mühe die schöne Griechin des Teatro Argentina vorstellte.

Meine Herren, sagte der Graf, aus dem Wagen springend, sind Sie müde, Schauspieler zu sein, und wollen Sie wieder Zuschauer werden, so wissen Sie, daß Sie Platz an meinen Fenstern haben; inzwischen verfügen Sie über meinen Kutscher, meinen Wagen und meineBedienten.