Das Diner harrte der Freunde; da jedoch Albert erwähnt hatte, er gedenke nicht sobald zurückzukehren, so setzte sich Franz ohne ihn zu Tische. Gewohnt, sie miteinander speisen zu sehen, erkundigte sich Herr Pastrini nach der Ursache seiner Abwesenheit, aber Franzbegnügte sich, ihm zu erwidern, Albert habe am Tage zuvor eine Einladung erhalten, der er Folge leiste. Das plötzliche Auslöschen der Moccoletti, die Dunkelheit, die auf den maßlosen Lärm folgende Stille hatten Franz in eine traurige Stimmung versetzt, die nicht ganz frei von Unruhe war. Er speiste also sehr schweigsam, trotz der Dienstfertigkeit seines Wirtes, der wiederholt erschien, um zu fragen, ober nichtsbedürfe.
Franz war entschlossen, solange als möglich auf Albert zu warten. Erbestellte daher den Wagen erst auf elf Uhr undbeauftragte Pastrini, ihn sogleichbenachrichtigen zu lassen, wenn Albert zurückkehrte. Um elf Uhr war dies noch nicht geschehen. Franz kleidete sich an und entfernte sich mit derBemerkung, er würde die ganze Nachtbei dem Herzog vonBracciano, bei dem die Freunde zu einemBalle geladen waren, zubringen.
Das Haus des Herzogs vonBracciano gehörte zu den gesuchtesten Häusern Roms; die Herzogin, eine der letzten Erbinnen der Colonna, war eine der gefeiertsten Damen der ewigen Stadt, und die Feste, die der Herzog gab, hatten europäischen Ruf. Franz und Albert waren mit Empfehlungsbriefen an ihn nach Rom gekommen, er fragte deshalbFranz auch sogleich, wo sein Reisegefährte geblieben sei. Franz erwiderte dem Herzog, er habe ihn in dem Augenblick, wo man die Moccoletti ausgelöscht, verlassen und sei ihmbei der Via Macello aus dem Gesichte gekommen.
Er ist also nicht nach Hause zurückgekehrt? fragte der Herzog.
Ich erwartete ihnbis zu dieser Stunde.
Wissen Sie, wohin er gegangen ist?
Nicht genau; ich glaube jedoch, es handelt sich um ein Stelldichein.
Teufel! rief der Herzog; das ist ein übler Tag, oder vielmehr eine üble Nacht, um noch spät außen zubleiben, nicht wahr, Frau Gräfin?
Diese Worte waren an die Gräfin G*** gerichtet, die soeben erschien und am Arme des Herrn Torlonia, desBruders des Herzogs, auf und abging.
Mir scheint im Gegenteil, daß es einebezaubernde Nacht ist, entgegnete die Gräfin, und die, welche sich hierbefinden, werden nur klagen, daß sie so schnell vorübergeht.
Ich spreche auch nicht von den Personen, die hier sind, versetzte der Herzog lächelnd; die Männer laufen keine andere Gefahr, als die, in Sie verliebt zu werden, die Frauen keine andere, als vor Eifersucht zu sterben, wenn sie Ihre Schönheit erschauen; ich spreche von denen, die in den Straßen der Stadt umherlaufen.
Ei! guter Gott, fragte die Gräfin, wer läuft zu dieser Stunde aus den Straßen umher, wenn nicht, um auf denBall zu gehen?
Unser Freund Albert von Morcerf, Frau Gräfin, den ich heute abend um sieben Uhr, als er einer Unbekannten folgte, verlassen und seitdem nicht wieder gesehen habe, sagte Franz. Hat er Waffenbei sich?
Er geht in der Tracht einesBajazzo.
Sie hätten ihn nicht sollen gehen lassen, sagte der Herzog zu Franz, Sie, der Sie Rombesser kennen, als er.
Oh! es wäre ebenso leicht gewesen, Nummer 3 der Wettrenner, die heute den Preis gewonnen hat, aufzuhalten als ihn zu hindern; und dann, was soll ihm geschehen?
Wer weiß? Die Nacht ist sehr finster, und der Tiber ganz nahebei der Ria Macello.
Franz fühlte, wie ihm ein Schauer durch die Adern lief, als er fand, daß die Gedanken des Herzogs und der Gräfin so sehr mit seiner persönlichen Unruhe im Einklang standen.
Ich habe auch im Gasthofebemerkt, ich würde die Nacht hier zubringen, und manbenachrichtigt mich, sobald er zurückkommt, versetzte Franz.
Halt, sprach der Herzog, ich glaube, es kommt hier gerade einer von meinen Dienern, der Sie sucht.
Der Herzog täuschte sich nicht, der Diener näherte sich Franz und sagte: Exzellenz, der Gastwirt von der Stadt London läßt Ihnen melden, daß Sie ein Mann mit einemBriefe des Vicomte von Morcerfbei ihm erwarte.
Warumbrachte er denBrief nicht hierher?
DerBote hat mir keine Erklärung gegeben.
Und wo ist der Bote?
Er ging sogleich wieder weg, als er mich in denBallsaal eintreten sah, um Sie zubenachrichtigen.
Oh! mein Gott! sagte die Gräfin zu Franz, gehen Sie schnell; es ist ihm vielleicht ein Unglück widerfahren, und kommen Siebald zurück, uns Kunde zu geben.
Franz nahm seinen Hut und entfernte sich in größter Eile. Er hatte seinen Wagen weggeschickt und erst auf zwei Uhr wiederbestellt, aber zum Glück ist der PalastBracciano kaum zehn Minuten von der Stadt London entfernt. Als sich Franz dem Gasthofe näherte, sah er einen Menschen mitten auf der Straße stehen, von dem er keinen Augenblick zweifelte, daß er der von Albert abgeschickteBote sei. Er ging auf den Menschen, der in einen langen Mantel gehüllt war, zu; doch zu seinem großen Erstaunen richtete der Unbekannte zuerst das Wort an ihn.
Was wollen Sie von mir, Exzellenz? sagte er, einen Schritt zurückweichend, wie ein Mensch, der auf seiner Hut ist. Seid Ihr es nicht, der mir einenBrief vom Vicomte von Morcerfbringt? entgegnete Franz.
Wie heißt Eure Exzellenz?
Baron Franz d'Epinay.
Dann ist dieserBrief wohl an Eure Exzellenz gerichtet.
Bedarf er einer Antwort? fragte Franz, denBrief aus den Händen des Unbekannten nehmend.
Ja, wenigstens hofft Ihr Freund auf eine Antwort.
So kommt mit mir herauf, und ich werde sie Euch geben.
Ich will lieber hier warten, sagte derBote lachend.
Warum?
Eure Exzellenz wird die Sachebegreifen, wenn sie denBrief gelesen hat.
Franz ging in den Gasthof; auf der Treppebegegnete er Pastrini, der ihn mit verstörter Miene erwartet hatte. Franz entfaltete rasch das Papier. DerBrief war von Alberts Hand geschrieben und von ihm unterzeichnet. Franz las ihn zweimal, so überrascht war er von seinem Inhalt. Er lautete:
«Lieber Freund!
Sobald Sie Gegenwärtiges empfangen, haben Sie die Gefälligkeit, aus meinem Portefeuille, das Sie in der viereckigen Schublade des Sekretärs finden werden, den Kreditbrief zu nehmen; nehmen Sie den Ihrigen dazu, wenn meiner nicht reicht. Laufen Sie zu Torlonia, lassen Sie sich auf der Stelle viertausend Piaster geben, und händigen Sie dieselben dem Überbringer ein. Es ist dringend, daß mir diese Summe ohne Verzug zukommt. Ich sage nicht mehr, da ich auf Sie zähle, wie Sie auf mich zählen können. N. S. Ibelieve now in Italianbandits.
Ihr Freund Albert von Morcerf.«
Unter diese Zeilen waren von fremder Hand folgende italienische Worte geschrieben:
Se alle sei della mattina le quattro mille piastre non sono nelle miei mani, alle sette il conte Alberto avrà cessto di vivere.
Luigi Vampa
Die zweite Unterschrift erklärte Franz alles, und erbegriff das Widerstreben desBoten, zu ihm heraufzukommen; die Straße schien ihm sicherer als Franzens Zimmer. Albert war in die Hände desberüchtigtenBanditenführers gefallen, an dessen Existenz er so lange nicht hatte glauben wollen.
Es war keine Zeit zu verlieren. Er lief an den Sekretär, öffnete ihn, fand in derbezeichneten Schublade das Portefeuille, und in dem Portefeuille den Kreditbrief; er war im ganzen auf 6000 Piaster ausgestellt; aber von diesen 6000 Piastern hatte Albertbereits 3000 verbraucht. Franzbesaß keinen Kreditbrief; da er in Florenz wohnte und nur nach Rom gekommen war, um hier siebenbis acht Tage zubleiben, so hatte er etwa 100 Louisd'or mitgenommen, und davonblieben ihm höchstens noch 50. Es waren also noch 7bis 800 Piaster erforderlich, wenn Franz und Albert die verlangte Summe zusammenbringen sollten. Allerdings konnte Franz auf die Gefälligkeit des Herrn Torlonia rechnen, und er war daher auch schon imBegriff, in den PalastBracciano zurückzukehren, als ein leuchtender Gedanke seinen Geist durchblitzte.