Der Graf von Monte Christo fiel ihm ein. Franz wollte eben den Wirt rufen lassen, als dieser auf der Türschwelle erschien.
Mein lieber Herr Pastrini, sagte er, glauben Sie, daß der Graf zu Hause ist?
Ja, Exzellenz, er ist soeben zurückgekommen.
Ichbitte Sie, fragen Sie ihn für mich um Erlaubnis, ihn einen Augenblick sprechen zu dürfen.
Der Wirtbeeilte sich, diesen Auftrag zu vollziehen; fünf Minuten nachher meldete er Franz, der Graf erwarte ihn. Franz durchschritt rasch den Gang, ein Diener führte ihnbei dem Grafen ein. Erbefand sich in einem kleinen, ganz von Diwans umgebenen Kabinett, das Franz noch nicht gesehen hatte. Der Graf kam ihm entgegen.
Ei! welcher gute Wind führt Sie zu dieser Stunde hierher? sagte er. Sollten Sie das Abendessen mit mir nehmen wollen? Das wäre sehr liebenswürdig.
Nein, ich komme wegen einer sehr ernsten Angelegenheit.
Wegen einer ernsten Angelegenheit! sagte der Graf, Franz mit dem ihm eigentümlichen tiefenBlicke anschauend; worum handelt es sich?
Franz übergabihm AlbertsBrief und sagte: Lesen Sie.
Ah! ah! rief der Graf.
Was sagen Sie dazu? fragte Franz.
Haben Sie die verlangte Summe? Es fehlen mir achthundert Taler.
Der Graf ging an einen Sekretär, öffnete ihn, zog eine Schublade voll Gold heraus und sagte zu Franz: Ich hoffe, daß Sie mir nicht dieBeleidigung antun werden, sich an einen andern, als mich zu wenden?
Sie sehen im Gegenteil, daß ich gerade zu Ihnen gekommenbin.
Dafür danke ich; nehmen Sie. Und er ersuchte Franz, das Gold zu nehmen.
Ist es denn durchaus notwendig, diese Summe Luigi Vampa zu schicken? fragte der junge Mann, den Grafen ebenfalls fest anschauend.
Bei Gott! rief dieser, urteilen Sie selbst, die Nachschrift klingt sehrbestimmt.
Es scheint mir, wenn Sie ein wenig nachdenken wollten, würden Sie ein Mittel finden, das die Unterhandlung sehr vereinfachen müßte? entgegnete Franz.
Welches? fragte der Graf erstaunt.
Wenn wir zumBeispiel Luigi Vampa miteinander aufsuchten… ichbin überzeugt, er schlüge es Ihnen nicht ab, Albert freizugeben.
Mir? Welchen Einfluß soll ich auf denBanditen ausüben?
Haben Sie ihm nicht einen von den Diensten geleistet, die man nie vergißt? — Einen Dienst?
Haben Sie nicht vor wenigen Tagen Peppino gerettet?
Ah! ah! rief der Graf, wer hat Ihnen das gesagt?
Was liegt daran? Ich weiß es.
Der Grafbliebeinen Augenblick stumm.
Und wenn ich Vampa aufsuchte, würden Sie michbegleiten?
Falls Ihnen meine Gesellschaft nicht zu unangenehm wäre.
Gut! Es sei; das Wetter ist schön, ein Spaziergang nach der Campagna kann uns nur wohltun. Wo ist der Mensch, der diesenBrief gebracht hat? Auf der Straße.
Er muß hören, wohin wir gehen; ich werde ihn rufen.
Der Graf trat an das Fenster des Kabinetts, das nach der Straße ging, und pfiff auf einebesondere Weise. Der Mann mit dem Mantel entfernte sich von der Mauer und schrittbis in die Mitte der Straße vor.
Salite! sprach der Graf mit einem Tone, als gäbe er seinemBedienten einenBefehl. DerBote gehorchte, ohne zu zögern, ja sogar mit einem gewissen Eifer, sprang die vier Stufen der Freitreppe hinauf und trat in den Gasthof. Fünf Sekunden nachher war er an der Tür des Kabinetts.
Ah! Dubist es, Peppino, rief der Graf.
Doch statt zu antworten, warf sich Peppino auf die Knie, ergriff die Hand des Grafen und drückte seine Lippen wiederholt darauf.
Oh! sagte der Graf, du hast noch nicht vergessen, daß ich dir das Leben rettete! Das ist seltsam, es sind doch heute schon acht Tage vorüber.
Nein, Exzellenz, ich werde es nie vergessen, antwortete Peppino mit dem Tone der tiefsten Dankbarkeit.
Nie? Das ist sehr lange; doch schon genug, wenn du es nur glaubst. Steh auf und antworte.
Peppino warf einen unruhigenBlick auf Franz.
Oh! du kannst vor dem Herrn sprechen, versetzte der Graf, es ist einer meiner Freunde. Wie ist der Graf Albert in Luigis Hände gefallen?
Exzellenz, die Kalesche des Franzosen hat wiederholt den Wagen gekreuzt, worin Teresa saß.
Des Hauptmanns Geliebte?
Ja. Der Franzose liebäugelte mit ihr, Teresa machte sich den Spaß es zu erwidern: der Franzose warf ihr Sträuße zu und sie ihm, alles, wohlverstanden, mit Einwilligung des Hauptmanns, der sie, als Kutscher verkleidet, führte.
Und dann? fragte der Graf.
Nun, dann nahm der Franzose die Maske ab; Teresa tat dasselbe; der Franzose verlangte eine Zusammenkunft, Teresa sagte sie ihm zu; nur fand sich, statt Teresa, Beppo — verkleidet alsBäuerin — auf den Stufen der Kirche von San Giacomo ein; ein Wagen wartete am Ende der Via Macello, Beppo forderte den Franzosen auf, ihm zu folgen; er ließ sich dies nicht zweimal sagen und setzte sich neben ihn. Dieser sagte ihm nun, er führe ihn nach einer Villa, die eine Meile von der Stadt liege. Der Franzose versicherteBeppo, er seibereit, ihmbis ans Ende der Welt zu folgen. Sogleich fuhr der Kutscher die Strada di Ripetta hinauf, erreichte die Porta di San Paolo, und als der Franzose, zweihundert Schritte in der Campagna, zu unternehmend wurde, setzte ihmBeppo ein paar Pistolen vor dieBrust; rasch hielt der Kutscher seine Pferde an, wandte sich auf seinem Sitze um und tat dasselbe. Zu gleicher Zeit stürzten vier von den Unseren, die am Ufer des Almo verborgen waren, an den Kutschenschlag. Der Franzose hatte große Lust, sich zu verteidigen, würgteBeppo auch ein wenig, wie ich hörte; aber er konnte gegen fünfbewaffnete Männer nichts machen, er mußte sich ergeben. Man ließ ihn aussteigen, folgte dem Ufer des Flüßchens und führte ihn zu Teresa und Luigi, die ihn in den Katakomben von San Sebastiano erwarteten.
Ei, das ist eine romantische Geschichte, bemerkte der Graf. Was sagen Sie dazu, Sie, der Sie Kenner sind?
Ich würde sie sehr lustig finden, wäre sie einem anderen, als dem armen Albertbegegnet.
Wenn Sie mich nicht gefunden hätten, erwiderte der Graf, so würde dieses Liebesabenteuer Ihrem Freunde ziemlich teuer zu stehen gekommen sein; dochberuhigen Sie sich, er wird mit der Angst davon kommen.
Und wir suchen ihn auf? fragte Franz.
Bei Gott! Um so mehr, als er sich an einem sehr malerischen Ortebefindet. Kennen Sie die Katakomben von San Sebastiano?
Nein, doch ich dachte, sie einmal zubesuchen. Wohl, die Gelegenheit ist da, und es wäre schwer, einebessere zu finden. Haben Sie Ihren Wagen?
Nein.
Gleichviel; es istbei mir Gewohnheit, Tag und Nacht einen Wagen angespannt halten zu lassen.
Tag und Nacht angespannt?
Ja, ichbin ein sehr launenhafter Mensch und muß Ihnen sagen, daß mir zuweilen, wenn ich aufstehe, nach der Mahlzeit oder auch mitten in der Nacht, die Lust ankommt, nach irgend einem Punkte der Welt zu reisen, und dann reise ich auch.
Der Graf läutete, sein Kammerdiener erschien.
Lassen Sie den Wagen vorfahren, sagte der Graf zu ihm, nehmen Sie die Pistolen heraus, die in den Taschen sind! es ist nicht nötig, den Kutscher zu wecken, Ali fährt.
Nach einem Augenblick hörte man den Wagen.
Halbein Uhr, sagte der Graf, auf seine Uhrblickend, wir hätten erst um fünf Uhr fahren können und wären noch zu rechter Zeit gekommen; doch dann würde Ihr Gefährte vielleicht eine schlimme Stunde durchgemacht haben, und es ist daherbesser, ihn auf der Stelle den Händen der Ungläubigen zu entziehen. Sind Sie immer noch entschlossen, mich zubegleiten?
Mehr als je.
Franz und der Graf verließen das Zimmer, gefolgt von Peppino. Vor der Tür fanden sie den Wagen, Ali saß auf demBocke; Franz erkannte den stummen Sklaven der Grotte von Monte Christo. Franz und der Graf stiegen in den Wagen; Peppino setzte sich neben Ali, und man fuhr im Galopp fort. Ali hatte vorherBefehle erhalten, denn er fuhr über den Korso und erreichte die Porta di San Sebastiano; hier wollte der Torwart einige Schwierigkeiten machen, aber der Graf von Monte Christo zeigte ihm einen Erlaubnisschein vom Gouverneur der Stadt, der ihm zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ungehinderten Aus- und Einlaß zusicherte; das Fallgatter wurde also aufgehoben, der Torwart erhielt einen Louisd'or für seine Mühe, und man fuhr hinaus.