Fragte er dann: Wer ist Albert von Morcerf? Woher hat er seinen Namen? Woher sein Vermögen? Welches sind seine Existenzmittel? Welches ist sein Vaterland? Wo ist er geboren? Sprechen Sie, hat er Sie danach gefragt?
Ich muß gestehen, nein.
Er ist ohne weiteres gegangen und hat mich aus Vampas Händenbefreit, wo ich eben keinebeneidenswerte Rolle spielte. Nun, mein Lieber, wenn er mich dafür um etwasbittet, was man jeden Tag für jeden italienischen oder russischen Fürsten tut, der durch Paris reist, das heißt, ihn in der Gesellschaft vorzustellen… soll ich ihm das verweigern? Oh, Franz, Sie sindbefangen.
Tun Sie, wie Sie wollen, lieber Vicomte, versetzte Franz nach kurzem Stillschweigen, denn alles, was Sie mir da sagen, ist dem Anscheine nach völlig richtig; aber darum scheint es mir nicht minder wahr, daß der Graf ein äußerst seltsamer Mann ist.
Der Graf von Monte Christo ist ein Menschenfreund; hat er Ihnen nicht gesagt, in welcher Absicht er nach Paris kommt? Nun wohl, er kommt, um sich um den von Monthyon für edle Schriftwerke gestifteten Tugendpreis zubewerben, und wenn es nur meiner Stimmebedarf, damit er ihn erhält, so werde ich sie ihm geben. Somit wollen wir diesen Gegenstand ruhen lassen, lieber Franz, uns zu Tische setzen und dann Sankt Peter einen letztenBesuch machen.
Es geschah, wie Albert sagte, und am andern Tage um fünf Uhr nachmittags trennten sich die jungen Leute, Albert von Morcerf, um nach Paris zurückzukehren, Franz d'Epinay, um vierzehn Tage in Venedig zuzubringen. Doch ehe Albert in den Wagen stieg, übergaber einem Diener im Gasthofe eine Karte für den Grafen von Monte Christo, auf die er unter die Worte: Vicomte Albert von Morcerf, die Worte geschrieben hatte:
Am 21. Mai, um halbelf Uhr morgens, Rue du Helder, Nr. 27.
Das Frühstück
In dem Hause der Rue du Helderbereitete sich am Morgen des 21. Mai alles vor, um dem Worte des jungen Mannes Ehre zu machen. Albert von Morcerfbewohnte einen Pavillon, der an der Ecke eines großen Hofes und einem andern für die Dienerschaftbestimmten Gebäude gegenüber lag. Nur zwei Fenster dieses Pavillons gingen auf die Straße, während drei nach dem Hof und zwei weitere rückwärts nach dem Garten schauten. Zwischen dem Hofe und dem Garten erhobsich die modische, geräumige Wohnung des Grafen und der Gräfin von Morcerf.
Aus der Wahl des zur Wohnung für Albertbestimmten Pavillons leuchtete die zarte Fürsorge einer Mutter, die sich von ihrem Sohne nicht trennen wollte, aber wohl einsah, daß ein junger Mann vom Alter des Vicomte seiner vollen Freiheitbedurfte. Zugleich ergabsich daraus auch der verständige Egoismus des jungen Mannes, dem es das freie, müßige Leben eines minderjährigen Sohnes angetan hatte, das man ihm vergoldete, wie dem Vogel seinenBauer.
Durch die nach der Straße gehenden Fenster konnte Albert sich von den Vorgängen draußen unterrichten, und wenn er sich weiter orientieren wollte, durch eine kleine Tür gehen, die neben der Wohnung des Pförtners angebracht war. Es sah aus, als sei es ein seit Erbauung des Hauses vergessenes und zu fortwährender Vergessenheit verurteiltes Pförtchen, sobestaubt undbescheiden erschien esbeim erstenBlick; aberbei nähererBetrachtung zeugten Schloß und Angeln, sorgfältig eingeölt, von einer geheimenbeständigenBenutzung.
Am Ende eines weiten, stillen, als Vorzimmer dienenden Ganges öffneten sich rechts der nach dem Hofe gehende Speisesaal Alberts und links sein kleiner Salon, von dem man die Aussicht nach dem Garten hatte. Gesträuche und Schlingpflanzenbreiteten sich fächerartig von den Fenstern aus und verbargen dem Hofe und dem Garten das Innere der zwei einzigen im Erdgeschosse liegenden Zimmer, in die unbescheideneBlicke hätten dringen können. Im ersten Stocke fanden sich die gleichen Zimmer, außerdem ein drittes, das als Vorzimmer diente. Diese drei Gelasse waren ein Salon, ein Schlafzimmer und einBoudoir. Der untere Salon war nur eine Art algerischen Rauchzimmers. DasBoudoir des ersten Stockes ging in das Schlafzimmer und stand durch eine unsichtbare Tür mit der Treppe in Verbindung. Es waren, wie man sieht, alle Vorsichtsmaßregeln getroffen.
Über diesem ersten Stocke fand sich ein geräumiges Atelier, das man, Mauern und Scheidewände einreißend, vergrößert hatte… ein Pandämonium, das der Künstler dem Stutzer streitig machte. Dort sammelten sich alle Spuren der verschiedenen Neigungen Alberts: Waldhörner, Baßgeigen, Flöten, ein ganzes Orchester, denn Albert hatte einen Augenblick nichtBegabung, sondern Neigung zur Musik gehabt; sodann fanden sich dort Staffeleien, Paletten, Pastelle, auf die Neigung zur Musik war nämlich die Neigung zur Malerei gefolgt, ferner Rappiere, Boxhandschuhe und Stöcke aller Art, denn nach den Überlieferungen der jungen Modeherren der Zeit pflegte Albert mit unendlich mehr Ausdauer, als er diesbei der Musik und Malerei getan, jene drei Künste, welche die Erziehung des Salonlöwen vollenden, die Fechtkunst, dasBoxen und die Handhabung des Stockes.
Im übrigenbestand die Ausstattung in alten Truhen aus der Zeit Franz I., die mit chinesischem Porzellan, japanischen Vasen, Fayencen von Lucca della Robbia und Platten vonBernard de Palissy gefüllt waren; in antiken Lehnstühlen, worin vielleicht Heinrich IV. oder Ludwig XIII. gesessen hatte, denn zwei von diesen Stühlen waren mit dem geschnitzten Lilienwappen geschmückt. Auf diesen Stühlen lagen durcheinander kostbare Stoffe aus Persien oder Indien. An dem am meisten in die Augen fallenden Platze stand ein prächtiges Piano. Überall, längs den Wänden, über den Türen, an der Decke sah man Schwerter, Dolche, Keulen, Äxte, ganz vergoldete Rüstungen; Kräuterbücher, Haufen von Mineralien, ausgestopfte Vögel u. s. w.
Es versteht sich von selbst, daß dieses Zimmer Alberts Lieblingszimmer war.
Am Tage des Wiedersehens hatte jedoch der junge Mann sein Hauptquartier in dem kleinen Salon im Erdgeschosse aufgeschlagen und alle Anordnungen zu einem würdigen Empfange seines Gastes getroffen.
Um drei Viertel auf zehn Uhr trat ein Kammerdiener ein. Erbildete für gewöhnlich mit einem kleinen Reitknecht, der nur englisch sprach und auf den Namen John antwortete, die ganze Dienerschaft Alberts. Der Kammerdiener, der Germain hieß und das vollkommene Vertrauen seines jungen Herrn genoß, hielt in der Hand einen Stoß Zeitungen, die er auf den Tisch legte, und ein PäckchenBriefe, das er Albert übergab.
Albert schaute mit zerstreutem Auge die verschiedenen Schreiben an, wählte zwei mit zarter Schrift und wohlriechenden Umschlägen, öffnete sie und las sie mit einiger Aufmerksamkeit.
Lassen Sie Frau Danglars sagen, wandte er sich dann an den Diener, ich nehme den Platz an, den sie mir in ihrer Loge anbietet… Warten Sie doch… im Verlaufe des Tages gehen Sie zu Rosa und melden ihr, ich werde ihrer Einladung zufolge nach der Operbei ihr zu Nacht speisen; bringen Sie ihr sechs Flaschen ausgesuchten Wein, Cyprier, Xeres und einen KorbOstender Austern…
Um welche Zeit soll gedeckt werden?
Servieren Sie um halbelf Uhr. Debray muß vielleicht in sein Ministerium gehen… Und überdies… es ist die Stunde, die ich dem Grafen angegeben habe, am 21. Mai um halbelf Uhr morgens; wenn ich auch nicht erwarte, daß er sein Versprechen hält, so will ich doch pünktlich sein. Wissen Sie nicht, obdie Frau Gräfin aufgestanden ist?
Wenn es der Herr Vicomte wünscht, werde ich mich erkundigen.
Ja… erbitten Sie sich von ihr einen Likörkasten, meiner ist unvollständig; sagen Sie ihr, ich werde um drei Uhr die Ehre haben, zu ihr zu kommen.
Der Kammerdiener ging ab. Albert warf sich auf einen Diwan, blätterte in ein paar Zeitungen, sah nach den Theatern, machte eine Grimasse, als er wahrnahm, daß man eine Oper und keinBallett gab, warf einBlatt nach dem andernbeiseite und murmelte gähnend: Diese Zeitungen werden in der Tat immer erbärmlicher.
In diesem Augenblick hielt ein leichter Wagen vor der Tür, und eine Minute nachher kam der Kammerdiener zurück, um Herrn Lucien Debray zu melden. Ein großer, blonder, bleicher junger Mann, mit grauem, sicherem Auge, dünnen, kalten Lippen, mit weißer Kravatte und einem an einer seidenen Schnur hängenden Monokle trat, ohne zu lächeln, ohne zu sprechen und mit einer halboffiziellen Miene ein. Er war nämlich Privatsekretär des Ministers des Innern. Diebeiden jungen Leute sprachen von allerlei Stadtklatsch, und Debray erzählte eben, ihr gemeinschaftlicherBekannter, Baron von Danglars, habe in spanischen Papieren eine Million gewonnen, als der Kammerdiener eintrat und HerrnBeauchamp anmeldete.