Ich ahnte, Sie würden mein Freund werden, Herr Graf, sagte Morel; überdies habe ichbereits die Ehre gehabt, Ihnen zubemerken, daß ich an diesem Tage dem Schicksal eine Gabe als Wiedervergeltung für die Gunst schuldigbin, die uns einst zu teil geworden ist.
Die Geschichte, auf die Herr Morel anspielt, fuhr Chateau‑Renaud fort, ist eine ganzbewunderungswürdige Geschichte, die er Ihnen eines Tages erzählen wird, wenn Sie nähereBekanntschaft mit ihm gemacht haben; für heute wollen wir den Magen und nicht das Gedächtnis stärken. Um wieviel Uhr frühstücken Sie, Albert?
Um halbelf Uhr.
Auf den Punkt? fragte Debray, seine Uhr ziehend.
Ah! Sie werden mir doch die fünf Wartminuten gewähren, erwiderte Morcerf, denn ich erwarte ebenfalls einen Retter.
Einen Retter wessen?
Von mir, bei Gott! antwortete Morcerf. Glauben Sie, man könne mich nicht auch retten, wie einen andern, und nur die Araber schlagen Köpfe ab? Unser Frühstück ist ein philanthropisches Frühstück, und wir werden, wenigstens hoffe ich es, zwei Wohltäter der Menschheitbei Tische haben.
Und woher kommt er? fragte Debray.
Das weiß ich nicht, erwiderte Albert. Als ich ihn vor drei Monaten einlud, war er in Rom; doch wer kann sagen, welchen Weg er seitdem gemacht hat?
Glauben Sie, daß er Pünktlichkeitbesitzt? fragte Debray.
Ich glaube, daß er alle guten Eigenschaftenbesitzt.
Passen Sie ja auf! Mit Ihren fünf Wartminuten sind's noch zehn.
Ich werde siebenutzen, um Ihnen ein Wort von meinem interessanten Gaste zu sagen. Ich war während des letzten Karnevals in Rom und wurde von Räubern entführt.
Es gibt keine Räuber, sagte Debray.
Allerdings gibt es welche und zwar abscheuliche, das heißt liebenswürdige, denn ich habe sie zum Fürchten zu schön gefunden. Die Räuber hatten mich also entführt und an einen jammervollen Ort gebracht, den man die Katakomben von San Sebastiano nennt. Man kündigte mir an, ich sei Gefangener gegen Lösegeld für erbärmliche 4000 römische Taler. Zum Unglückbesaß ich nicht mehr als fünfzehnhundert; ich war am Ende meiner Reise und mein Kredit erschöpft. Ich schrieban Franz, daß ich mich, wenn er nicht um sechs Uhr morgens mit den 4000 Talern käme, zehn Minuten später in der Gesellschaft der Heiligen und glorreichen Märtyrerbefinden würde, und Luigi Vampa, dies ist der Name meines Räuberhauptmanns, hätte gewissenhaft sein Wort gehalten, das dürfen Sie glauben.
Doch Franz kam mit den 4000 Talern? sagte Chateau‑Renaud. Zum Teufel! Man ist um 4000 Taler nicht in Verlegenheit, wenn man Franz d'Epinay oder Albert von Morcerf heißt!
Nein, er kam einfach inBegleitung des Gastes, den ich Ihnen ankündige und vorzustellen hoffe.
Oh! dieser Herr ist also ein Herkules.
Nein, er ist ein Mann etwa von meiner Figur.
Bis unter die Zähnebewaffnet?
Er hatte nicht einmal eine Stricknadelbei sich.
Unterhandelte er wegen Ihres Lösegeldes?
Er sagte dem Anführer zwei Worte ins Ohr, und ich war frei.
Man entschuldigte sich sogarbei Ihnen, daß man Sie festgenommen hatte? sagteBeauchamp.
Allerdings, sagte Morcerf.
Der Mann war also ein Geisterbanner?
Es war der Graf von Monte Christo.
Es gibt keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray.
Ich glaube nicht, fügte Chateau‑Renaud mit der überlegenen Miene eines Mannesbei, der sein europäisches Adelsbuch an den Fingern auswendig weiß, daß irgend wer irgend was von einem Grafen von Monte Christo gehört hat.
Verzeihen Sie, meine Herren, sagte Maximilian, ich glaube, ich kann Ihnen einen Fingerzeig geben. Monte Christo ist eine kleine Insel, von der ich die Matrosen im Dienste meines Vaters oft sprechen hörte… ein Sandkorn im Mittelländischen Meere.
Ganz richtig, versetzte Albert. Nun, dieses Sandkorns Gebieter und König ist der, von dem ich eben rede; er wird das Grafendiplom irgendwo in Toskana gekauft haben.
Ihr Graf ist also reich?
Haben Sie Tausendundeine Nacht gelesen?
Bei Gott, eine schöne Frage!
Wissen Sie denn, obdie Leute, die man dort sieht, reich oder arm sind? Obihre Getreidekörner nicht Diamanten oder Rubinen sind? Sie sehen aus wie armselige Fischer, nicht wahr? Plötzlich öffnen Sie Ihnen eine geheimnisvolle Höhle, worin Sie einen Schatz finden, für den man Indien kaufen könnte.
Nun?
Nun, mein Graf von Monte Christo ist einer von diesen Fischern. Er hat sogar einen entsprechenden Namen angenommen, denn er nennt sich Simbad der Seefahrer undbesitzt eine Höhle voll Gold.
Und haben Sie diese Höhle gesehen, Morcerf? sagteBeauchamp.
Ich nicht, aber Franz. Doch still! Man darf kein Wort davon in seiner Gegenwart sprechen. Franz stieg mit verbundenen Augen in die Höhle hinabund wurde von Stummen und von Frauenbedient, gegen die Kleopatra nur eine Lorette ist. Nur ist er nicht ganz sicher inBeziehung auf diese Frauen, weil er sie erst gesehen hat, nachdem er Haschisch gegessen hatte, so daß möglicherweise das, was er für tanzende Frauen hielt, eine Quadrille von Statuen war.
Die jungen Leute schauten Morcerf mit Augen an, als wollten sie sagen: Sind Sie wahnsinnig, oder wollen Sie unser spotten?
In der Tat, sagte Morel nachdenklich, ich habe einen alten Matrosen namens Penelon etwas erzählen hören, was mit Herrn von Morcerfs Erzählung übereinstimmt.
Ah! rief Albert, es ist ein Glück, daß mir Herr Morel zu Hilfe kommt. Nicht wahr, es ärgert Sie, daß er einen Faden in mein Labyrinth wirft?
Verzeihen Sie, lieber Freund, entgegnete Debray, Sie erzählen uns so unwahrscheinliche Dinge.
Ja, aber mein Graf von Monte Christo existiert.
Bei Gott! Die ganze Welt existiert, ein schönes Wunder also!
Allerdings existiert die ganze Welt, aber nicht unter ähnlichenBedingungen. Nicht die ganze Welt hat schwarze Sklaven, fürstliche Galerien, Waffen wie in der Kasauba, Pferde für 6000 Franken das Stück, eine griechische Geliebte.
Haben Sie die griechische Geliebte gesehen?
Ja, ich habe sie gesehen und gehört, gesehen im Teatro Argentina, gehört eines Tages, als ichbei dem Grafen frühstückte.
Ihr außerordentlicher Mann ißt also?
Meiner Treu, wenn er es tut, ist es so wenig, daß es sich nicht der Mühe lohnt, nur davon zu sprechen.
Sie werden sehen, es ist ein Vampir.
Lachen Sie, wenn Sie wollen. Das war auch die Ansicht der Gräfin G***.
Falbes Auge, dessen Stern sich nachBelieben vermindert oder erweitert, sagte Debray; stark hervortretende Gesichtswinkel, herrliche Stirn, Leichenblässe, schwarzerBart, weiße, spitzige Zähne, Höflichkeit ebenso.
Ganz genau getroffen, Lucien, rief Morcerf, das Signalement paßt Zug für Zug. Ja, spitzige, einschneidende Höflichkeit. Er hat mich oft schaudern lassen, so eines Tages, als wir gemeinschaftlich einer Hinrichtungbeiwohnten und ich ihn kalt über alle Arten von Hinrichtungen sprechen hörte.
Hat er Sie nicht auch in die Ruinen des Kolosseums geführt, um Ihnen dasBlut auszusaugen, Morcerf? fragteBeauchamp.
Spotten Sie, solange Sie wollen, meine Herren, versetzte Morcerf etwas gereizt. Wenn ich Sie anschaue, Sie, den schönen Pariser, und mir daneben diesen Mann vorstelle, so kommt es mir vor, als wären wir nicht von demselben Geschlechte.
Jedenfalls, sagte Chateau‑Renaud, ist Ihr Graf in seinen verlorenen Augenblicken ein artiger Mann, abgesehen von seinem Verkehr mit den italienischenBanditen.
Es gibt keine italienischenBanditen! sagte Debray.
Keine Vampire! fügteBeauchamp hinzu.
Keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray. Hören Sie, Albert, es schlägt halbelf Uhr. Gestehen Sie, daß Sie der Alp gedrückt hat, und lassen Sie uns frühstücken!