Es ist wenigstens offenherzig, bemerkte Morel; doch ichbin überzeugt, der Herr Grafbereut es nicht, daß er einmal von den Grundsätzen abgegangen ist, die er soeben so unbedingt gegen uns ausgesprochen hat.
Wiesobin ich von diesen Grundsätzen abgegangen? fragte Monte Christo, der von Zeit zu Zeit Maximilian unwillkürlich so aufmerksam anschaute, daß der kühne junge Mann schon ein paarmal die Augen vor dem klaren, durchsichtigenBlicke des Grafen niedergeschlagen hatte.
Mir scheint, antwortete Morel, indem Sie Herrn von Morcerf, der Ihnen unbekannt war, befreiten, dienten Sie Ihrem Nächsten und der Gesellschaft.
Deren schönste Zierde erbildet, sagteBeauchamp ernst und leerte mit einem Zuge ein volles Glas Champagner.
Herr Graf, rief Morcerf, Sie sind gefangen, Sie, einer der schärfsten Logiker, die ich kenne, und Sie werden sehen, manbeweist Ihnen sogleich, daß Sie kein Egoist, sondern ein Philanthrop sind. Ah, Herr Graf, Sie sagen, Sie seien Orientale, Malaie, Indianer, Chinese, Wilder, Sie nennen sich Monte Christo mit Familiennamen, Simbad der Seefahrer mit Vornamen, und an dem Tage, wo Sie Paris zum erstenmalbetreten, besitzen Siebereits das größte Verdienst oder den größten Fehler unserer überschwenglichen Pariser, das heißt, Sie maßen sich Laster an, die Sie nicht haben, und verbergen die Tugenden, die Siebesitzen.
Lieber Vicomte, sagte Monte Christo, ich sehe in allem, was ich gesprochen oder getan, nicht das geringste, was des Lobes wert wäre, das ich soeben von Ihnen und diesen Herren empfangen habe. Sie waren kein Fremder für mich, da ich Sie kannte, da ich Ihnen zwei Zimmer abgetreten, da ich Ihnen ein Frühstück gegeben, da ich Ihnen meinen Wagen geliehen, da wir miteinander auf dem Korso die vorüberziehenden Maskenbetrachtet und von einem Fenster der Piazza del popolo einer Hinrichtung zugeschaut hatten, die einen so gewaltigen Eindruck auf Sie machte, daß Ihnenbeinahe übel geworden wäre. Ich frage nun alle diese Herren: Konnte ich meinen Gast in den Händen derBanditen lassen, wie Sie diese Leute nennen? Auch hatte ich, als ich Sie rettete, wie Sie wissen, einen Hintergedanken; ich wollte gern durch Sie in die Pariser Salons eingeführt werden, wenn ich nach Frankreich käme. Sie konnten das damals für einen flüchtigen Einfall halten, heute aber sehen Sie, daß es eine ernste Wahrheit ist, der Sie sich unterwerfen müssen, wenn Sie Ihr Wort nichtbrechen wollen.
Ich werde es halten, sagte Morcerf, doch ich fürchte sehr, es wird eine Entzauberungbei Ihnen eintreten, lieber Graf, da Sie durch romantischeBegebenheiten und phantastische Ereignisse verwöhnt sind. Bei uns finden Sie keine Spur von Episoden der Art, wie sie in Ihrem abenteuerlichen Leben zur Regel gehören. Unser Chimborasso ist der Montmartre, unser Himalaya der Mont‑Valérien, unsere große Wüste die Ebene von Grenelle, wo man einen artesischenBrunnen gegraben hat, damit die Karawanen Wasser finden. Wir haben auch Räuber, viele Räuber, wenn auch nicht so viele, wie man sagt, aber diese Räuber fürchten der weitem mehr den kleinsten Spion, als den mächtigsten Herrn: kurz, Frankreich ist ein so prosaisches Land und Paris eine so zivilisierte Stadt, daß Sie in allen unseren Departements keinenBerg finden, auf dem nicht eine Telegraphenstange stände, und keine etwas dunkle Grotte, in der die Polizei nicht hätte eine Glastür einsetzen lassen. Ich kann Ihnen folglich nur einen Dienst leisten, lieber Graf, und für diesen stehe ich zu Ihrer Verfügung: ich kann Sie überall vorstellen oder durch meine Freunde vorstellen lassen. Übrigensbrauchen Sie niemand hierzu; mit Ihrem Namen, mit Ihrem Vermögen und Ihrem Geiste — Monte Christo verbeugte sich mit leichtem ironischem Lächeln — stellt man sich überall selbst vor und wird überall gut aufgenommen. Ich kann Ihnen also nur in einerBeziehung nützlich sein. Gereicht es mirbei Ihnen zur Empfehlung, daß ich ein wenig mit dem Pariser Leben vertrautbin, einige Erfahrung im Komfortablen habe und unsereBasare kenne, so verfügen Sie über mich, wenn Sie sich einbequemes Haus aussuchen wollen. Ich wage es nicht, Ihnen den Vorschlag zu machen, meine Wohnung mit mir zu teilen, wie ich die Ihrige in Rom geteilt habe, ich, der ich mich nicht zum Egoismusbekenne, aber nichtsdestoweniger vorzugsweise Egoistbin; dennbei mir würde es, mich selbst ausgenommen, kein Schatten aushalten, dieser Schatten müßte denn der einer Frau sein.
Ah! rief der Graf, das ist ein ganz ehrlicher Vorbehalt. Sie haben mir in der Tat in Rom ein paar Worte von einem Heiratsplane gesagt; darf ich Ihnen zu Ihrer nahebevorstehenden Verbindung Glück wünschen?
Meinem Vater ist daran gelegen, und ich hoffe Ihnenbinnen kurzem, wenn nicht meine Frau, doch meineBraut, Fräulein Eugenie Danglars, vorzustellen.
Eugenie Danglars! rief Monte Christo, warten Sie doch… ist Ihr Vater nicht der Graf Danglars?
Ja, antwortete Morcerf, aber ein Graf neuer Herkunft.
Oh! Was tut das? entgegnete Monte Christo. Wenn er nur dem Staate Dienste geleistet hat, welche diese Auszeichnung als gerechteBelohnung erscheinen lassen.
Ungeheure Dienste, sagteBeauchamp. Er hat, obgleich in seinem Innern liberal, im Jahre 1829 ein Anlehen von sechs Millionen für den König Karl X. zu stande gebracht und wurde von diesem dafür zum Grafen und Ritter der Ehrenlegion ernannt, und so trägt er dasBand nicht an seiner Westentasche, wie man glauben könnte, sondern hübsch am Knopfloch seines Frackes.
Oh! rief Morcerf lachend, Beauchamp, Beauchamp, sparen Sie sich das für das Journal Amüsant und den Charivari, aber schonen Sie in meiner Gegenwart meinen künftigen Schwiegervater!
Sich an Monte Christo wendend, fragte Morcerf: Sie haben soeben seinen Namen ausgesprochen, wie einer, der den Grafen kennt?
Ich kenne ihn nicht, antwortete Monte Christo mit nachlässigem Tone, werde jedoch wahrscheinlichbald seineBekanntschaft machen, da ich einen offenen Kredit auf ihn durch das Haus Thomson und French in Rom habe.
Beim Aussprechen dieser Namen warf der Graf aus einem Winkel seines Auges Morel einenBlick zu.
Hatte der Fremde auf Morel eine Wirkung hervorzubringen gehofft, so täuschte er sich nicht. Morel zitterte, wie vom elektrischen Schlag getroffen. Thomson und French, sagte er, kennen Sie dieses Haus?
Es sind meineBankiers in der Hauptstadt der christlichen Welt, antwortete ruhig der Graf, kann ich Ihnenbei diesen Herren in irgend einerBeziehung nützlich sein?
Oh! Herr Graf, Sie könnten uns vielleicht in Nachforschungen unterstützen, diebis jetzt fruchtlos gewesen sind. Dieses Haus hat einst dem unsrigen einen großen Dienst geleistet, diesen Dienst aber, ich weiß nicht warum, stets abgeleugnet.
Ich stehe zuBefehl, sagte der Graf, sich verbeugend.
Aber wir sind vom Gegenstande unseres Gespräches abgekommen, bemerkte Morcerf. Es war davon die Rede, eine taugliche Wohnung für den Grafen von Monte Christo auszusuchen. Also meine Herren, wir wollen unsbesinnen! Wo werden wir unsern neuen Gast einquartieren?
Im Faubourg Saint‑Germain, sagte Chateau‑Renaud, der Herr findet dort ein reizendes kleines Hotel zwischen Garten und Hof.
Bah! Chateau‑Renaud, rief Debray, Sie kennen nur Ihren öden, langweiligen Faubourg Saint‑Germain. Hören Sie nicht auf ihn, Herr Graf! Wohnen Sie in der Chaussée‑d'Antin, das ist der wahre Mittelpunkt von Paris.
Boulevard de l'Opéra, sagteBeauchamp, im ersten Stock, ein Haus mitBalkon, der Herr Graf läßt Kissen von Silberstoff dahinbringen und sieht, seinen Tschibuk rauchend oder seine Pillen schluckend, die ganze Hauptstadt vor seinen Augen vorüberziehen.
Haben Sie keinen Gedanken, Morel, daß Sie nichts vorschlagen? sagte Chateau‑Renaud.
Doch wohl, erwiderte lächelnd der junge Mann; ich habe einen Gedanken, wartete aber, obsich der Herr Graf nicht durch einen von den glänzenden Vorschlägen, die man ihm macht, verführen lassen würde. Nun, da er nicht geantwortet, glaube ich ihm eine Wohnung in einem reizenden kleinen Hotel… ganz Pompadour… anbieten zu dürfen, das meine Schwester seit einem Jahr in der Rue Meslay gemietet hat.