Sie haben eine Schwester? fragte Monte Christo.
Ja, mein Herr, eine vortreffliche Schwester.
Verheiratet?
Seitbald neun Jahren, und so glücklich, als es ein menschliches Geschöpf nur sein kann, antwortete Maximilian; sie hat den Mann geheiratet, den sie liebte, der uns in unserem Unglück treu geblieben ist: Emanuel Raymond.
Monte Christo lächelte unmerklich.
Ich wohnte dort während meines halbjährigen Urlaubs, fuhr Maximilian fort, und stehe mit meinem Schwager Emanuel mit jeder Auskunft zu Diensten, deren der Herr Grafbedürfen sollte.
Einen Augenblick, rief Morcerf, noch ehe der Graf von Monte Christo Zeit gehabt hatte zu antworten. Bedenken Sie wohl, was Sie tun, Herr Morel; Sie wollen einen freien, schrankenlosen Reisenden, Simbad den Seefahrer, an das Familienleben fesseln; Sie wollen aus einem Mann, der gekommen ist, Paris zu sehen und zu genießen, einen Patriarchen machen.
Oh nein, erwiderte Morel lächelnd. Meine Schwester ist fünfundzwanzig Jahre alt, mein Schwager dreißig; sie sindbeide jung, heiter und glücklich. Zudem wird der Graf in eigenen Räumen leben, völlig sein eigener Herr sein und seine Wirte nur sehen, so oft es ihmbeliebt, sich zu ihnen zubegeben.
Ich danke, ich danke, sagte Monte Christo, ich werde michbegnügen, Ihrer Schwester und Ihrem Schwager durch Sie vorgestellt zu werden, wenn Sie mir diese Ehre erweisen wollen; aber ich nehme keines von den Anerbieten der Herren an, da schon eine Wohnung für michbereit steht.
Wie? rief Morcerf, Sie wollen im Gasthof absteigen? Das wird sehr unbequem für Sie sein.
War ich denn in Rom so übel dran? fragte Monte Christo.
Oh! in Rom, entgegnete Morcerf, dort haben Sie fünfzigtausend Piaster ausgegeben, um sich eine Wohnung möblieren zu lassen, doch ich setze voraus, Sie sind nicht geneigt, sich jeden Tag eine solche Ausgabe zu machen.
Das hätte mich nicht zurückgehalten, sagte Monte Christo; doch ich war entschlossen, ein Haus in Paris zu haben, ein eigenes Haus, und schickte meinen Kammerdiener voraus, der mir dieses Haus kaufen und möblieren lassen mußte.
Haben Sie denn einen Kammerdiener, der Paris kennt? riefBeauchamp.
Er kommt, wie ich, zum erstenmal nach Frankreich, mein Herr, ist schwarz und spricht nicht.
Dann ist es Ali? versetzte Albert, während alle erstaunt aufblickten.
Ja, es ist Ali, mein Nubier, mein Stummer, den Sie, wie ich glaube, in Rom gesehen haben.
Allerdings, ich erinnere mich seiner, sagte Morcerf.
Aber wie konnten Sie einen Nubierbeauftragen, Ihnen ein Haus zu kaufen, einen Stummen, es möblieren zu lassen? Der arme Unglückliche wird alles verkehrt gemacht haben.
Sie täuschen sich, Herr; ichbin im Gegenteil überzeugt, daß er alles nach meinem Geschmack eingerichtet hat, denn Sie wissen, mein Geschmack stimmt mit dem gewöhnlichen nicht überein. Er ist vor acht Tagen angekommen und wird in der Stadt mit dem Instinkte eines guten Jagdhunds herumgelaufen sein. Er kennt meine Neigungen, meine Schrullen, meineBedürfnisse, und ich zweifle nicht, daß er alles nach meinem Sinn gewählt hat. Er wußte, daß ich heute um zehn Uhr ankomme, und wartete auf mich seit neun Uhr an derBarrière de Fontainebleau. Dort übergaber mir dieses Papier, auf dem meine neue Adresse steht; sehen Sie! Monte Christo reichte das Papier Albert, und dieser las: Champs‑Elysées Nr. 30.
Das ist in der Tat originell, riefBeauchamp unwillkürlich.
Und ganz fürstlich, fügte Chateau‑Renaud hinzu.
Sie kennen Ihr Haus nicht einmal? fragte Debray.
Nein, erwiderte Monte Christo. Ich habe Ihnenbereits gesagt, daß ich die Stunde nicht versäumen wollte. Ich machte meine Toilette im Wagen und stieg vor der Tür des Vicomte aus.
Die jungen Leute schauten sich an; sie wußten nicht, obMonte Christo Komödie spielte; doch alles, was aus dem Munde dieses Mannes kam, trug ein solches Gepräge der Einfachheit, daß man an keine Lüge denken konnte. Warum sollte er auch gelogen haben?
Wir werden uns alsobegnügen müssen, dem Herrn Grafen alle die kleinen Dienste zu leisten, die in unserer Macht liegen, sagteBeauchamp. Ich meinerseits öffne ihm in meiner Eigenschaft als Journalist alle Theater von Paris.
Ich danke, versetzte Monte Christo lächelnd, mein Intendant hatbereitsBefehl erhalten, mir in jedem eine Loge zu mieten.
Ist Ihr Intendant auch ein Nubier, ein Stummer? fragte Debray.
Nein, er ist ein Landsmann von Ihnen, soweit manbei einem Korsen überhaupt von Landsmannschaft reden kann, er ist also ein Korse: doch Sie kennen ihn, Herr von Morcerf?
Sollte es etwa derbrave SignorBertuccio sein, der so gut Fenster zu mieten versteht?
Ganz richtig, Sie haben ihnbei mir an dem Tage gesehen, wo ich Siebeim Frühstück zu empfangen die Ehre hatte. Er ist ein sehrbraver Mann, der ein wenig Soldat, ein wenig Schmuggler, ein wenig von allem, was man sein kann, gewesen ist. Ich möchte nicht schwören, daß er nicht einmal mit der Polizei wegen einer Lumperei, etwa wegen eines Messerstichs, in Konflikt gekommen ist.
Und Sie haben diesen ehrlichen Weltbürger zum Intendanten gewählt, Herr Graf? sagte Debray. Wieviel stiehlt er Ihnen jährlich?
Auf mein Ehrenwort, nicht mehr als ein andrer, dessenbin ich sicher; doch erbesorgt meine Angelegenheiten, kennt keine Unmöglichkeit, und ichbehalte ihn.
Also Sie haben ein völlig eingerichtetes Haus, sagte Chateau‑Renaud, ein Hotel in den Champs‑Elysées, Bediente, Intendanten; es fehlt Ihnen nur noch eine Geliebte.
Albert lächelte; er dachte an die schöne Griechin, die er in der Gesellschaft des Grafen gesehen hatte.
Ich habe etwasBesseres, antwortete Monte Christo, ich habe eine Sklavin. Sie mieten Ihre Geliebten im de l'Opéra, im Théâtre des Variétés, ich habe die meinige in Konstantinopel gekauft; sie hat mich sehr viel gekostet, aber ichbrauche mich in dieserBeziehung um nichts mehr zubekümmern.
Doch Sie vergessen, sagte Debray lachend, wir sind, wie König Karl gesagt hat, frank dem Namen nach, frank der Natur nach, und somit ist Ihre Sklavin, sobald sie den Fuß auf die Erde Frankreichs gesetzt hat, frei geworden.
Wer wird es ihr sagen? fragte Monte Christo.
Der nächstebeste.
Sie spricht nur Neugriechisch.
Das ist etwas anderes.
Aber wir werden sie wenigstens sehen, fragteBeauchamp, oderbesitzen Sie auch Eunuchen, wie Sie einen Stummen haben?
Nein, erwiderte Monte Christo, so weit treibe ich den Orientalismus nicht. Jedem von meiner Umgebung steht es frei, mich zu verlassen, und wer mich verläßt, bedarf weder mehr meiner, noch irgend einer andern Person, darum verläßt man mich vielleicht nicht.
Inzwischen war man längstbeim Nachtisch undbei den Zigarren angelangt.
Mein Lieber, sagte Debray, als er aufstand und wegging, zum Wirt, es hat halbdrei Uhr geschlagen, Ihr Gast ist entzückend, aber die Gesellschaft mag so gut sein, wie sie will, man verläßt sie doch endlich… zuweilen einer schlechten zu Liebe; ich muß in mein Ministerium zurückkehren. Über den Grafen spreche ich mit dem Minister, und wir erfahren sicherlich, wer er ist.
Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Morcerf; die Schlauesten haben darauf Verzicht geleistet.
Bah! wir haben drei Millionen für unsere Polizei; sie sind allerdings fast immer zum voraus ausgegeben, doch gleichviel, esbleiben immerhin fünfzigtausend Franken, die man hierauf verwenden kann.
Und wenn Sie wissen, wer er ist, werden Sie es mir sagen?
Ich verspreche es Ihnen. Auf Wiedersehen, meine Herren!
Mit diesen Worten verließ Debray die Gesellschaft und rief ganz laut im Vorzimmer: Vorfahren!
Gut, sagteBeauchamp zu Albert, ich gehe nicht in die Kammer, aber ich habe nun meinen Lesern etwasBesseres zubieten, als eine Rede von Danglars.
Ichbitte, Beauchamp, erwiderte Morcerf, ichbitte, kein Wort, hiervon; berauben Sie mich nicht des Verdienstes, ihn vorzustellen. Nicht wahr, er ist interessant?