Er ist noch mehr, sagte Chateau‑Renaud, er ist in der Tat einer der außerordentlichsten Menschen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Kommen Sie mit, Morel?
Lassen Sie mich nur meine Karte dem Grafen geben, der uns einenBesuch zugesagt hat.
Seien Sie versichert, daß ich nicht verfehlen werde, ihn abzustatten, sagte der Graf mit einer Verbeugung.
Nachdem hierauf Morel dem Grafen seine Karte überreicht hatte, entfernte er sich mit demBaron von Chateau‑Renaud und ließ Monte Christo mit Morcerf allein.
Dritter Band
Die Vorstellung
Als Albert sich mit Monte Christo allein sah, sagte er: Herr Graf, erlauben Sie mir, Ihnen zunächst meine Junggesellenwohnung zu zeigen. An die italienischen Paläste gewöhnt, werden Sie sich freilich wundern, mit wie wenig Raum ein junger Mann hier in Paris auskommen kann.
Monte Christo kanntebereits das Speisezimmer und den Salon im Erdgeschoß. Albert führte ihn nun in seinbevorzugtes Zimmer, sein Atelier. Der Graf wußte alle die zahllosen Gegenstände darin zu würdigen, und Morcerf, der dem Gaste als Erklärer hatte dienen wollen, machte seinerseits unter Leitung seines Gastes einen Kursus in der Archäologie und Naturwissenschaft durch.
Man stieg dann in den ersten Stock hinauf, und Albert führte seinen Gast in den Salon, der mit Werken moderner Meister geschmückt war. Wenn er aber erwartet hatte, diesmal wenigstens dem fremden Reisenden etwas Neues zu zeigen, so hörte er zu seinem großen Erstaunen diesen sofort den Namen jedes Meisters nennen, obgleich die Werke häufig nur die Anfangsbuchstaben desselben trugen. Offenbar kannte er nicht nur alle diese Namen, sondern verstand auch jedes dieser Talente zu würdigen.
Vom Salon ging man ins Schlafzimmer; es war zugleich ein Muster von Eleganz und von strengem Geschmack; darin glänzte ein einziges künstlerisch ausgeführtes Porträt in mattgoldenem Rahmen. DiesesBild zog sogleich dieBlicke des Grafen an, denn er machte drei rasche Schritte darauf zu.
Es war das Porträt einer Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, vonbrauner Gesichtsfarbe, mit feurigem, von schön geformtem Augenlide verschleiertemBlicke, sie trug die malerische Kleidung der katalonischen Fischerinnen mit rot und schwarzem Mieder und goldenen, durch die Haare gesteckten Nadeln; sie schaute auf die See hinaus, und ihr hübsches Profil hobsich von dem doppelten Azur der Wellen und des Himmels ab.
Es war düster im Zimmer, sonst hätte Albert gesehen, welche Leichenblässe sich über die Wangen des Grafen verbreitete, er hätte dasBeben seiner Schultern und seinerBrustbemerken müssen.
Nach kurzem Stillschweigen sagte der Graf von Monte Christo mit vollkommen ruhiger Stimme: Graf, Sie haben da eine schöne Geliebte, und diesesBallkostüm steht ihr zum Entzücken.
Oh! erwiderte Albert, Sie irren. Das ist meine Mutter, die Sie ja noch nicht gesehen haben. Die Tracht ist, wie es scheint, ein Phantasiekostüm, und die Ähnlichkeit ist so groß, daß ich meine Mutter noch vor mir zu sehen wähne, wie sie im Jahre 1830 war, als sie dieses Porträt während einer Abwesenheit des Grafen malen ließ. Seltsamerweise mißfiel das Porträt meinem Vater, und der große Kunstwert des Gemäldes ließ ihn den Widerwillen nicht überwinden, den er dagegen gefaßt hatte. Allerdings ist Herr von Morcerf, unter uns gesagt, einer der eifrigsten Politiker, einberühmter General, aber ein äußerst mäßiger Kunstkenner. Anders meine Mutter, die sehr gut malt, und da sie ein solches Werk zu sehr schätzt, um sich gänzlich davon trennen zu können, hat sie es mir gegeben, damit es Herrn von Morcerf, dessen Porträt ich Ihnen übrigens auch zeigen werde, seltener vor Augen komme. Meine Mutter jedoch kommt selten zu mir, ohne es zubetrachten, und noch seltener geschieht es, daß sie dasBildbetrachtet, ohne zu weinen. Übrigens ist die Wolke, die durch dieses Gemälde in unser Haus kam, die einzige, die sich zwischen dem Grafen und der Gräfin erhoben hat, denn sie sind, obgleich seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet, noch heute so sehr eins wie am ersten Tage.
Monte Christo warf einen raschenBlick auf Albert, als wollte er unter seinen Worten eine verborgene Absicht suchen, aber der junge Mann hatte sie offenbar völlig absichtslos ausgesprochen.
Nun haben Sie alle meine Reichtümer gesehen, fuhr Albert fort; erlauben Sie mir, Herr Graf, sie Ihnen anzubieten, so unwürdig sie auch sein mögen. Betrachten Sie sich als hier zu Hause, und um noch heimischer zu werden, haben Sie die Güte, mich zu Herrn von Morcerf zubegleiten, dem ich von Rom den Dienst, den Sie mir geleistet, mitgeteilt. und denBesuch, den Sie mir versprochen, angekündigt habe. Ich darf wohl sagen, der Graf und die Gräfin erwarten mit Ungeduld den Zeitpunkt, wo sie Ihnen danken können. Sie haben hierfür wenig Sinn; ich weiß das, Herr Graf, und Familienszenen üben keine große Wirkung auf Simbad den Seefahrer aus, der so viele andere Szenen gesehen hat. Nehmen Sie indessen, was ich Ihnenbieten kann, als Eingang in das Pariser Leben an, in ein Leben voll Höflichkeitsbesuche und Vorstellungen.
Monte Christo verbeugte sich, ohne zu antworten; er nahm den Vorschlag ohneBegeisterung und ohne Widerstreben an… wie eine Pflicht des Anstandes, der sich jeder unterwerfen muß. Albert rief seinen Kammerdiener undbefahl ihm, Herrn und Frau von Morcerf den Grafen von Monte Christo zu melden; dann folgte er ihm mit dem Grafen.
Als man in das Vorzimmer des Grafen gelangte, sah man über der Tür des Salons ein Wappenschild; der Grafbliebvor dem Wappen stehen, schaute es aufmerksam an und fragte: Ohne Zweifel das Wappen Ihrer Familie, Vicomte? Ichbin sehr unwissend in der Wappenkunde.
Sie haben richtig erraten, es sind die Wappen meines Vaters und meiner Mutter, antwortete Morcerf mit dem einfachen Tone der Überzeugung. Von weiblicher Seitebin ich Spanier, doch das Haus Morcerf ist französisch und, wie ich sagen hörte, eines der ältesten im südlichen Frankreich.
Ja, sagte der Graf, das deuten die Amseln in den Wappen an. Fast alle Kreuzfahrer wählten als Wappen entweder Kreuze oder Wandervögel. Einer Ihrer väterlichen Ahnen wird einen Kreuzzug mitgemacht haben, und nehmen wir auch an, es sei einer der letzten Züge unter Ludwig dem Heiligen gewesen, so führt dies Ihren Adel schon in das dreizehnte Jahrhundert zurück, was immerhin ein hübsches Alter ist. Sie stammen also zugleich von der Provence und von Spanien her, wodurch sich, wenn das Porträt, das Sie mir gezeigt haben, ähnlich ist, die schönebraune Farbe erklärt, die ich so sehr auf dem Antlitz der edeln Katalonierinbewunderte.
Die Ironie, die in diesen Worten lag, die scheinbar das Gepräge der größten Höflichkeit an sich trugen, war schwer zu erraten; Morcerf dankte ihm auch mit einem Lächeln, ging voran und öffnete eine in den Salon führende Tür. An der am meisten in das Auge fallenden Stelle dieses Salons sah man ebenfalls ein Porträt; es war das eines Mannes von etwa sechsunddreißig Jahren in Generalsuniform mit demBande der Kommandeure der Ehrenlegion, dem Stern des Großoffiziers vom Erlöser‑Orden und dem Großkreuz des Ordens Karls III.
Monte Christobeschäftigte sich eben damit, dieses Porträt mit derselben Sorgfalt zu zergliedern wie vorher das andere, als eine Seitentür geöffnet wurde und er sich dem Grafen von Morcerf selbst gegenüber fand.
Dieser war ein Mann von vierzigbis fünfundvierzig Jahren; sein schwarzer Schnurrbart und seine schwarzen Augenbrauen stachen seltsam von seinen weißen, nach militärischer Modebürstenartig geschnittenen Haaren ab; er warbürgerlich gekleidet und trug am Knopfloch ein Ordensband. Der Graf von Morcerf trat mit ziemlich edlem Anstand und mit einem gewissen Eifer ein. Monte Christo ließ ihn auf sich zukommen, ohne einen Schritt zu tun; man hätte glauben sollen, seine Füße seien an denBoden genagelt, wie seine Augen an das Gesicht des Eintretenden.