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Lillian kam trotz des Verbots zum Abendessen herunter; das Krokodil kontrollierte gewöhnlich sonntags nicht. Sie hatte zwei Gläser Wodka getrunken, um sich vor der Melancholie der Dämmerung zu retten; aber es war ihr nicht gelungen. Dann hatte sie ihr bestes Kleid angezogen — Kleider halfen manchmal mehr als jeder moralische Trost — , aber diesmal hatte auch das nicht genutzt. Der Cafard, der plötzliche Weltschmerz, der Hader mit Gott, den jeder hier oben kannte und der ohne ersichtlichen Grund kam und ging, war geblieben. Er hatte sie angeflogen wie ein dunkler Schmetterling.

Erst als sie in das Esszimmer trat, wußte sie, woher er kam. Das Zimmer war fast voll, und an einem Tisch in der Mitte saß Eva Moser, umringt von einem halben Dutzend ihrer Freunde, vor sich einen Kuchen, eine Flasche Champagner und Geschenke in buntem Papier. Es war ihr letzter Abend. Am nächsten Nachmittag sollte sie abfahren.

Lillian wollte zuerst umkehren; dann sah sie Hollmann. Er saß allein neben einem Tisch mit den drei schwarzgekleideten Südamerikanern, die auf den Tod Manuelas warteten, und winkte ihr zu.

»Ich habe Giuseppe heute gefahren«, sagte er.

»Haben Sie es gesehen?«

»Ja. Hat jemand sonst Sie noch gesehen?«

»Wer?«

»Das Krokodil? Oder der Dalai Lama?«

»Niemand. Der Wagen war an der Übungswiese geparkt. Da kann man ihn nicht sehen. Und wenn schon! Ich bin glücklich. Ich glaubte schon, ich könne die verdammte Karre nicht mehr fahren.«

»Jeder scheint heute abend glücklich zu sein«, erwiderte Lillian bitter. »Sehen Sie sich das da an!«

Sie zeigte auf den Tisch, an dem Eva Moser mit erhitztem, dicklichem Gesicht saß, umringt von ihren teilnehmenden und neidischen Freunden. Sie saß da wie jemand, der das Große Los gezogen hat und plötzlich nicht weiß, wie er zu all der überraschenden Teilnahme kommt.

»Und Sie?« fragte Lillian Hollmann. »Haben Sie Ihre Temperatur gemessen?«

Hollmann lachte. »Das hat Zeit bis morgen. Heute will ich nicht daran denken.«

»Glauben Sie nicht, daß Sie Fieber haben?«

»Es ist mir egal. Und ich glaube es nicht.«

Wozu frage ich ihn das, dachte Lillian. Bin ich auf ihn neidisch, so wie alle auf Eva Moser? »Kommt Clerfayt heute abend nicht?« fragte sie.

»Nein. Er hat heute nachmittag überraschend Besuch bekommen. Wozu soll er auch immer heraufkommen? Es muß langweilig sein für ihn.«

»Warum fährt er dann nicht weg?« fragte Lillian ärgerlich.

»Er fährt; aber erst in ein paar Tagen. Mittwoch oder Donnerstag.«

»Diese Woche?«

»Ja. Ich nehme an, er wird mit seinem Besuch hinunterfahren.«

Lillian antwortete nicht; sie wußte nicht genau, ob Hollmann ihr das absichtlich erzählte, und da sie es nicht wußte, nahm sie an, es sei Absicht und fragte deshalb nicht weiter. »Haben Sie etwas zu trinken bei sich?« fragte sie.

»Nicht einen Tropfen. Ich habe den Rest meines Gins heute nachmittag Charles Ney geschenkt.«

»Haben Sie nicht eine Flasche Wodka geholt, heute Mittag?«

»Die habe ich Dolores Palmer gegeben.«

»Warum? Wollen Sie plötzlich Modellpatient werden?«

»Ungefähr das«, erwiderte Hollmann etwas verlegen.

»Heute Mittag waren Sie alles andere.«

»Gerade deswegen«, sagte Hollmann. »Ich will wieder fahren.«

Lillian schob ihren Teller zurück. »Und mit wem reiße ich denn von nun an abends aus?«

»Da sind doch genug. Und Clerfayt ist ja auch noch hier.«

»Ja. Und nachher?«

»Kommt Boris heute abend nicht?«

»Nein, er kommt nicht. Und mit Boris kann man nicht ausreißen. Ich habe ihm gesagt, ich hätte Kopfschmerzen.«

»Haben Sie welche?«

»Ja.« Lillian stand auf. »Ich werde sogar das Krokodil heute abend glücklich machen, damit alle glücklich sind. Ich werde schlafen gehen. In Morpheus' Armen. Gute Nacht, Hollmann.«

»Ist irgend etwas los, Lillian?«

»Nichts als das Übliche. Langeweile. Ein Zeichen von gutem Befinden, würde der Dalai Lama sagen. Wenn es einem wirklich schlecht geht, soll es angeblich keine Panik mehr geben. Man soll zu schwach dazu sein. Wie gütig Gott ist, was?«

Die Nachtschwester hatte ihre Abendrunde beendet. Lillian saß auf ihrem Bett und versuchte zu lesen. Nach einer Weile schob sie das Buch beiseite. Wieder lag die Nacht vor ihr, das Warten auf den Schlaf, der Schlaf und dann das jähe Aufschrecken aus dem Schlaf und der gewichtslose Moment, wo man nichts wieder erkannte, nicht das Zimmer und nicht sich selbst, wo man im sausenden Dunkel hing und nichts als Angst war, neblige Todesangst, endlose Sekunden lang — bis das Fenster langsam wieder vertraut wurde und kein Schattenkreuz im unbekannten Chaos mehr war, sondern Fenster wieder, und das Zimmer Zimmer, und das Knäuel aus Ur-Furcht und lautlosem Schrei wieder sie, für kurze Zeit auf Erden Lillian Dunkerque genannt.

Es klopfte. Charles Ney stand draußen in einem roten Schlafrock und Pantoffeln. »Alles ist klar«, flüsterte er. »Komm rüber zu Dolores! Abschiedsfeier für Eva Moser.«

»Wozu? Warum geht sie nicht? Wozu muß sie noch Abschied feiern?«

»Wir wollen eine Abschiedsfeier. Nicht sie.«

»Ihr habt doch schon eine im Esszimmer gehabt.«

»Nur um die Schwester zu täuschen. Komm, sei keine Trauerweide!«

»Ich habe keine Lust.«

Charles Ney kniete an ihrem Bett nieder. »Komm, Lillian, Geheimnis aus Mond, Silber und rauchigem Feuer! Wenn du hier bleibst, wirst du dich ärgern, allein zu sein — wenn du drüben bist, wirst du dich ärgern, hingekommen zu sein. Es ist also dasselbe — komm deshalb!« Er horchte zum Korridor und öffnete die Tür. Man hörte das Stapfen von Krücken. Eine hagere ältere Frau hinkte vorbei. »Alle kommen! Da ist Streptomycin-Lilly bereits. Und da kommt Schirmer mit André.«

Ein Graubart in einem Krankenstuhl wurde von einem jungen Mann im Charlestonschritt vorbeigefahren. »Du siehst, selbst Tote stehen auf, um Fräulein Moser ein Ave Caesar, morituri te salutant darzubringen«, erklärte Charles Ney. »Vergiß dein russisches Erbe auf einen Abend, und besinne dich auf deinen heiteren wallonischen Vater. Zieh dich an und komm!«

»Ich ziehe mich nicht an. Ich komme in Pyjamas!«

»Komm in Pyjamas, aber komm!«

* * *

Dolores Palmer wohnte ein Stockwerk tiefer als Lillian. Sie lebte dort seit drei Jahren in einem Appartement, das aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer und einem Bad bestand. Sie bezahlte die höchste Miete des Sanatoriums und nutzte die Rücksicht, die man darauf nahm, bedenkenlos aus.

»Wir haben zwei Flaschen Wodka für dich im Badezimmer«, sagte sie zu Lillian. »Wo willst du sitzen? Neben der Debütantin, die ins gesunde Leben wandert, oder unter den hektischen Zurückbleibenden? Such dir einen Platz.«

Lillian sah sich um. Es war ein Bild, das sie kannte: Die Lampen waren mit Tüchern verhängt, der Graubart bediente das Grammophon, dessen Lautsprecher mit hineingestopfter Wäsche gedämpft war, und Streptomycin-Lilly saß auf dem Boden in einer Ecke, weil ihr Gleichgewichtssinn durch die Droge unsicher geworden war und sie leicht umfiel. Die andern hockten herum in der halben, etwas künstlichen Bohemestimmung überalterter Kinder, die heimlich zu lange aufbleiben. Dolores Palmer trug ein chinesisches Kostüm, ein langes, unten geschlitztes Kleid. Sie war von einer tragischen Schönheit, die sie selbst nicht empfand. Ihre Liebhaber gingen daran irre wie Reisende an einer Fata Morgana. Während sie sich in Extravaganzen erschöpften, wollte Dolores eigentlich nichts weiter als ein einfaches Leben führen, Kleinbürgerlichkeit mit allem Luxus. Große Gefühle langweilten sie, aber sie inspirierte sie und mußte mit ihnen kämpfen.

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