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Der Weltschmerz steckt an, dachte er und stand auf. Mitte des Lebens, ohne Ziel und ohne Halt. Er zog seinen Mantel an und entdeckte darin einen schwarzen Samthandschuh. Er hatte ihn gestern auf dem Tisch gefunden, als er allein in die Bar zurückgekommen war. Lillian Dunkerque mußte ihn vergessen haben. Er steckte ihn in die Tasche, um ihn später im Sanatorium abzugeben.

* * *

Er war eine Stunde durch den Schnee gegangen, als er, abseits der Straße, in der Nähe des Waldes, ein kleines, quadratisches Gebäude entdeckte, das eine runde Kuppel hatte, aus der schwarzer Rauch quoll. Er blieb stehen. Eine ekelhafte Erinnerung stieg in ihm auf an etwas, das er hatte vergessen wollen und für das er einige Jahre sinnlosen Lebens verschwendet hatte, um es zu vergessen. »Was ist denn das da?« fragte er einen jungen Burschen, der vor einem Laden Schnee wegschaufelte.

»Da drüben? Das Krematorium, mein Herr.«

Clerfayt schluckte. Er hatte sich also nicht geirrt.

»Hier?« sagte er. »Wozu habt ihr denn hier ein Krematorium?«

»Für die Hospitäler natürlich. Die Toten.«

»Dazu brauchen sie ein Krematorium? Sterben denn so viele?«

Der Bursche lehnte sich auf seine Schaufel. »Jetzt nicht mehr so viele, mein Herr. Aber früher — vor dem Kriege, vor dem ersten Kriege, meine ich, und auch nachher — da gab es hier viele Tote. Wir haben hier lange Winter, und im Winter kann man die Erde schwer aufhacken. Alles ist tief zu Stein gefroren. Ein Krematorium ist da viel praktischer. Wir haben unseres hier schon fast dreißig Jahre.«

»Dreißig Jahre? Dann hattet ihr es also schon, bevor Krematorien wirklich modern wurden, was? Lange vor dem Massenbetrieb.«

Der Bursche verstand nicht, was Clerfayt meinte.

»Wir waren hier immer die ersten für etwas Praktisches, mein Herr. Es ist auch billiger. Die Leute wollen jetzt nicht mehr so viel Geld ausgeben für den Leichentransport. Früher war das anders. Da ließen viele Familien ihre Toten in versiegelten Zinksärgen in die Heimat kommen. Das waren schönere Zeiten als heute!«

»Das glaube ich.«

»Und ob! Sie müssen einmal meinen Vater davon erzählen hören! Er hat die ganze Welt so gesehen!«

»Wie?«

»Als Leichenbegleiter«, sagte der Bursche, erstaunt über soviel Unkenntnis. »Die Leute hatten damals noch Pietät, mein Herr. Sie ließen ihre Toten nicht allein reisen. Besonders nicht nach Übersee. Mein Vater kennt zum Beispiel Südamerika wie seine Tasche. Die Leute dort waren reich und wollten ihre Toten immer herübergebracht haben. Das war, bevor die Flugzeuge populär wurden. Der Transport geschah mit der Bahn und auf Dampfern, würdig, wie es sich gehört. Das dauerte natürlich Wochen. Das Essen, mein Herr, das es da gab für den Leichenbegleiter! Mein Vater hat die Menüs gesammelt und einbinden lassen. Auf einer Reise — mit einer vornehmen chilenischen Dame — hat er einmal über dreißig Pfund zugenommen. Alles war frei, auch das Bier, und außerdem gab es ein schönes Geschenk, wenn der Sarg abgeliefert wurde. Dann« — der Bursche blickte unfreundlich zu dem kleinen, quadratischen Gebäude hinüber, aus dem der Rauch nur noch leicht wehte — »dann kam das Krematorium. Anfangs war es nur für Leute ohne Religion, aber jetzt ist es sehr modern geworden.«

»Das ist es«, bestätigte Clerfayt. »Nicht nur hier.«

Der Bursche nickte. »Die Leute haben keinen Respekt mehr vor dem Tode, sagte mein Vater. Die beiden Weltkriege haben das verursacht; es sind zu viele Menschen umgekommen. Immer gleich Millionen. Das hat seinen Beruf ruiniert, sagt mein Vater. Jetzt lassen selbst die Angehörigen in Übersee ihre Toten einäschern, und die Urne mit der Asche wird per Flugzeug nach Südamerika geschickt.«

»Ohne Begleiter?«

»Ohne Begleiter, mein Herr.«

Der Rauch aus dem Krematorium hatte aufgehört. Clerfayt holte ein Paket Zigaretten hervor und hielt es dem redseligen Burschen hin. »Sie hätten die Zigarren sehen sollen, die mein Vater mitgebracht hat«, sagte der, während er eine Zigarette herausnahm und sie betrachtete. »Havannas, mein Herr, das Feinste der Welt. Kisten voll! Sie waren ihm zu schade zum Rauchen; er hat sie immer an die Hotels hier verkauft.«

»Was macht Ihr Vater jetzt?«

»Jetzt haben wir das Blumengeschäft hier.« Der Bursche zeigte auf den Laden, vor dem sie standen. »Wenn Sie irgend etwas brauchen, mein Herr, wir sind billiger als die Räuber im Dorf. Und wir haben manchmal herrliche Sachen. Gerade heute morgen ist eine frische Sendung gekommen. Brauchen Sie nichts?«

Clerfayt dachte nach. Blumen? Warum nicht? Er konnte sie der rebellischen jungen Belgierin mit der russischen Mutter ins Sanatorium schicken. Es würde sie aufheitern. Und wenn ihr Freund, der hochmütige Russe, es erfahren würde, um so besser. Er trat in den Laden.

Eine dünne Klingel schrillte. Hinter einem Vorhang kam ein Mann hervor, der eine Kreuzung zwischen einem Kellner und einem Küster sein konnte. Er trug einen dunklen Anzug und war überraschend klein. Clerfayt sah ihn neugierig an. Er hatte ihn sich muskulöser vorgestellt; aber dann fiel ihm ein, daß der Mann die Särge ja nicht selbst hatte schleppen müssen.

Der Laden sah kümmerlich aus, und die Blumen waren durchschnittlich bis auf einige, die sehr schön waren und gar nicht hineinpassten. Clerfayt sah eine Vase mit weißem Flieder und einen langen Zweig flacher, weißer Orchideen. »Taufrisch!« sagte der kleine Mann. »Heute erst angekommen. Diese Orchidee ist ein Staatsexemplar. Hält sich mindestens drei Wochen. Es ist eine seltene Art.«

»Sind Sie Orchideenkenner?«

»Ja, mein Herr. Ich habe viele Sorten gesehen. Auch im Ausland.«

In Südamerika, dachte Clerfayt. Vielleicht hat er dort nach Ablieferung der Särge ab und zu noch eine kleine Dschungelexpedition mitgemacht, um später staunenden Kindern und Kindeskindern davon erzählen zu können. »Packen Sie es ein«, sagte er und zog den schwarzen Samthandschuh Lillians aus der Tasche. »Legen Sie dies dazu. Haben Sie einen Briefumschlag und eine Karte?«

* * *

Er ging zurück zum Dorf. Unterwegs schien ihm, als wittere er immer noch den widerlich süßlichen Rauch des Krematoriums. Er wußte, daß es unmöglich war; der Föhn hatte den Rauch zwar heruntergedrückt, aber er war jetzt viel zu weit entfernt, um noch etwas riechen zu können. Es war nur die Erinnerung an Öfen, die Tag und Nacht gebrannt hatten — Öfen, nicht weit von dem Lager, in dem er gefangen gehalten worden war. Öfen, die er vergessen wollte.

Er trat in eine Kneipe. »Einen doppelten Kirsch.«

»Nehmen Sie einen Pflümli«, sagte der Wirt. »Wir haben einen ganz hervorragenden. Kirsch wird zuviel gepanscht.«

»Pflaumenschnaps nicht?«

»Er ist weniger bekannt und wird nicht exportiert. Versuchen Sie ihn einmal.«

»Gut. Geben Sie mir einen doppelten.«

Der Wirt schenkte das Glas bis zum Rande voll. Clerfayt trank es leer. »Sie haben einen guten Zug«, erklärte der Wirt. »Aber schmecken Sie auf diese Weise auch etwas?«

»Ich wollte nichts schmecken; ich wollte einen Geschmack vertreiben. Geben Sie mir noch einen; diesmal werde ich ihn schmecken.«