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Auch heute war es so.

Johannes und Iwan, die gerade gemeinsam an der Sägebank standen, sahen sich an und dachten in diesem Augenblick wohl dasselbe. Aber während Iwan bei dem Gedanken, der Zar persönlich könnte in die Werkstatt kommen, blass wurde, fuhr Johannes erwartungsvoll hoch und rannte zur Tür. Es war nicht unwahrscheinlich, dass Zar Peter selbst zu den Handwerkern ging. Er liebte es, überall persönlich vor Ort zu sein. Nicht selten nahm er sogar einem Handwerker das Werkzeug aus der Hand und arbeitete viel geschickter damit. Viele Jahre hatte er in Deutschland und in anderen Ländern die verschiedensten Handwerkskünste erlernt. Marfa hatte Johannes erzählt, dass er unter dem Namen Pjotr Michajlow zu reisen pflegte.

Doch es war nicht der Zar, der Michaels Werkstatt einen Besuch abstattete. Vor dem Gebäude erschien eine Gruppe von Leuten, deren prächtige Röcke und Westen mit langen Reihen wertvoller Knöpfe verziert waren. Gold blinkte in der trüben Nachmittagssonne. Einer der Besucher, ein korpulenter Mann, dessen lichtes Haar im Nacken von einem Seidenband zusammengehalten wurde, trat vor. Seine geröteten Wangen bebten. Es war der Baumeister Carsten Sund, ein Auftraggeber von Onkel Michael. Heute strahlte er allerdings nicht wie üblich gemütliche Ruhe aus, sondern klammerte sich nervös an eine Ledermappe, aus der Papier quoll. Der Grund für seine Aufregung war offenbar der hagere, dunkelhaarige Mann, der ihn begleitete. Er trug einen Federhut und einen weißen Schalkragen, der so sauber war, dass er in der Sonne leuchtete.

»Michael!«, rief Carsten Sund schon von weitem.

»Komm raus. Du hast hohen Besuch!«

Onkel Michael wischte sich die Hände an einem Ledertuch ab und trat vor. Marfa kam aus dem Haus, auf einem Tablett drei von Iwan geschnitzte, prächtige Trinkbecher. Verstohlen sah sich Johannes nach Iwan um. Der alte Leibeigene war wie vom Erdboden verschwunden.

»Das, verehrter Obrist Trezzini, ist der Mann, von dem ich Euch erzählt habe«, begann Carsten Sund.

»Michael Brehm, der beste Zimmermann, wenn es um Gerüste geht, und der beste Tischler für Türen und Täfelungen. Seine Winkel sind so genau gefertigt, dass nicht einmal eine Wanze in den Spalt passt.« Er lachte nervös. Michael versuchte sich an einem Lächeln und verbeugte sich tief.

»Gut«, sagte Trezzini kühl, aber nicht unfreundlich. »Dann lasst uns einen Blick in eure Werkstatt werfen.« Immer noch suchte Johannes nach einer Verbindung zu dem Namen, der ihm bekannt vorkam. Ohne Umschweife und mit selbstbewusstem Schritt ging Trezzini zu einem der Tische, die die Gehilfen mit der Geschwindigkeit eines Wimpernschlags freigeräumt hatten, und nahm Carsten Sund die Mappe aus der Hand. Mit Schwung breitete er ein Papier auf dem Tisch aus, auf dem mit feinen Linien die Skizze einer prächtigen Kirche mit einer nadelartigen, weit in den Himmel ragenden Spitze eingezeichnet war. Daneben befanden sich Zeichnungen von Stützstreben und ein verschnörkeltes Portal.

Rechts oben war ein doppelköpfiger und zweifach gekrönter Adler abgebildet, das Wappen des russischen Zarenreiches.

Nun begriff Johannes, wen er vor sich hatte: Domenico Trezzini, einer der wichtigsten Architekten der Stadt. Trezzini selbst nannte sich »Obrist für Fortification«. Seit einem Jahr war er damit betraut, die Erdwälle, die die Festung auf der Haseninsel umgaben, durch Steinmauern zu ersetzen. Gleichzeitig arbeitete er daran, die Festungsgebäude und den Neubau der Kathedrale zu planen, deren Holzkonstruktion ebenfalls bald einem massiveren Bau weichen sollte. Fast zweitausend Schauerleute, die für das Verladen der Baumaterialien auf die Lastschiffe zuständig waren, standen unter seinem Befehl. Jeder Baumeister in der Stadt, jeder Handwerker hätte alles dafür gegeben, für Trezzini arbeiten zu dürfen. Michael war blass, aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gemeinsam mit Sund beugte er sich über die Zeichnungen. Trezzini verschränkte die Arme und sah zu. Johannes erkannte, dass sich sowohl sein Onkel als auch dessen Auftraggeber auf dem Prüfstand befanden.

»Wir brauchen eine Konstruktion für ein Gerüst, das für die Zeit des Baus diese Streben stützt«, sagte Baumeister Sund und tippte auf die haarfeine Zeichnung. Johannes streckte den Hals, um besser sehen zu können, aber ein strenger Blick von einem der Männer, die Trezzini begleiteten, ließ ihn erstarren.

Es war nicht die Zeit, seinem Onkel Ärger zu machen.

Michael runzelte die Stirn. »Und es wird ein Rampensystem nötig sein, auf dem sich die Steine zur Mauer hochziehen lassen.« Trezzini lächelte verhalten. Onkel Michael betrachtete die Zeichnung, drehte sie ein wenig und schüttelte schließlich den Kopf.

»Die Konstruktion ist im Grunde korrekt. Aber wenn Ihr diese Querverstrebungen hier einsetzt, reißt Euch der erste Seilzug, der von dieser Seite kommt, diesen Balken hier weg.« Er kniff die Augen zusammen und betrachtete das Blatt lange. Die Gehilfen wagten nicht zu atmen. »Und ich glaube zu sehen«, fuhr er langsam fort, »dass sich hier ein Fehler eingeschlichen hat. Dieser Winkel hier kann unmöglich stimmen.« Johannes sah, wie Trezzini eine Augenbraue hochzog.

Michael holte ein weiteres Stück Papier, rechnete und verharrte, griff nach Zirkel und Lineal und zeichnete schließlich seinen eigenen Vorschlag auf.

Der Architekt beugte sich über das Blatt, betrachtete es lange, ließ seinen Blick zwischen den beiden Skizzen hin- und herwandern. Dann hellte sich sein Gesicht auf.

»Da seht Ihr es«, sagte Sund ruhig. »Meister Brehm wird Euch ein Gerüst bauen, das selbst die schwersten Steine nicht in die Knie zwingen werden.«

In diesem Moment erkannte Johannes, dass er Zeuge eines von allen Beteiligten ausgeführten Spiels geworden war – Trezzini hatte Michael eine Skizze mit einer falschen Berechnung gegeben um zu prüfen, wie gut er sein Handwerk verstand.

»Ihr fangt morgen an«, erklärte Trezzini. »Lasst uns alles Weitere besprechen.«

So schnell, wie sie in die Werkstatt gefegt waren, verließen sie den Ort wieder und gingen auf das Haus zu, wo Marfa schon dabei war, alle Köstlichkeiten, die sie in der zugigen Speisekammer hatte, auf den Tisch zu stellen. Johannes und die Gehilfen atmeten auf. Neben Johannes regte sich eine Holzplatte, die gegen einen Tisch gelehnt war. Mit einem Ächzen kroch Iwan wieder hervor. Sägespäne hingen in seinem Bart, den er so liebevoll glatt strich als sei er ein Kind, das er gerade noch rechtzeitig vor einem Mörder verborgen hatte. Er warf Johannes einen mürrischen Blick zu, setzte sich wieder an die Sägebank und arbeitete weiter, als wäre nichts geschehen.

* * *

Spät am Abend trat Johannes mit schmerzenden Händen und knurrendem Magen in das Haus und sah seinen Onkel und Carsten Sund am Tisch sitzen. Der hohe Besuch war längst gegangen, doch die beiden studierten immer noch einen ganzen Berg mit Bauzeichnungen und Plänen. Michael machte sich unermüdlich Notizen. Rechts von ihm saß Marfa und begutachtete eine Skizze. Verschütteter Wein am Rand des Tisches ließ darauf schließen, dass sie bereits lange über den Plänen brüteten. Johannes nahm sich ein Stück Brot und ging zum Feuer, wo die Kascha köchelte. Mit einem Holzlöffel schöpfte er ein wenig davon in eine Schüssel und setzte sich auf den Schemel, auf dem er sonst saß, wenn er Teile für seine Schiffsmodelle schnitzte.

»Ah, Johannes!«, rief Sund, der ihn hinter seinem Papierstapel erst jetzt wahrnahm. »Ab morgen gibt es noch mehr Arbeit!« Er strahlte, als müsste Johannes einen Freudensprung machen, und beugte sich wieder über einen Plan. Sein dickes Gesicht sah konzentriert aus und auch ein wenig besorgt. »Ich sag’s nicht gerne, Michael«, meinte er, »aber ich glaube, eine große Flut genügt, um diese Stadt einfach wegzuspülen. Sieh dir die Kanäle an! Nicht tief genug, um das Hochwasser aufzufangen. Hat auch einer der Kanalbauer gestern gesagt.«