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So lauteten die Mitteilungen des Daily Budget, und die «Jagd nach dem Mann im braunen Anzug», wurde zu seinem täglichen Kriegsgeschrei. Rund fünfhundert Leute behaupteten Tag für Tag, sie hätten den Gesuchten entdeckt, und Tausende junger Männer mit dunkler Gesichtsfarbe verfluchten den Tag, an dem sie sich zum Kauf eines braunen Anzugs entschlossen hatten. Der Unfall an der U-Bahn-Station geriet in Vergessenheit, weil sich kein Zusammenhang mit dem Mord in Marlow entdecken ließ.

Handelte es sich wirklich nur um ein zufälliges Zusammentreffen? Ich war dessen nicht so sicher. Natürlich war ich etwas voreingenommen, denn ich hütete ja mein eigenes kleines Geheimnis in dieser Sache. Aber ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass doch ein Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen bestand. Hier wie dort tauchte ein Mann mit gebräuntem Gesicht auf – anscheinend ein Engländer, der aus heißeren Gegenden kam –, und in beiden Fällen gab es unaufgeklärte Fragen. Diese Unklarheiten waren es schließlich; die mich zu einem energischen Schritt veranlassten. Ich ging zu Scotland Yard und verlangte den Inspektor zu sprechen, der für den Mord in Marlow zuständig war.

Nach etlichen Schwierigkeiten wurde ich in das Zimmer von Inspektor Meadows geführt. Dieser war ein kleiner, rothaariger Mann mit merkwürdigen Manieren. Irgendein Untergebener saß unbeachtet im Hintergrund.

«Guten Morgen», sagte ich mit zitternder Stimme.

«Guten Morgen. Wollen Sie bitte Platz nehmen? Ich hörte, dass Sie mir etwas mitteilen möchten, das für uns von Nutzen sein soll.»

Sein Ton deutete an, dass er dies für sehr unwahrscheinlich hielt. Mein Blut geriet in Wallung.

«Sie wissen natürlich Bescheid über den Mann, der an der U-Bahn-Station tödlich verunglückte? Der Mann, der eine Genehmigung zur Besichtigung des Hauses zur Mühle in der Tasche hatte.»

«Ah!», knurrte der Inspektor. «Sie sind also diese Miss Beddingfeld, die als Zeugin bei der Totenschau auftrat. Stimmt, der Mann hatte eine solche Genehmigung in der Tasche. Aber das haben sicher auch viele andere – nur werden sie zufällig nicht getötet.»

Ich riss mich zusammen. «Fanden Sie es nicht auffallend, dass der Mann keine Fahrkarte besaß?»

«So ein Ding kann man leicht verlieren, ist mir selber schon passiert.»

«Er hatte auch kein Geld bei sich.»

«Doch. Ein paar Münzen in seiner Westentasche.»

«Aber keine Brieftasche.»

«Es gibt viele Menschen, die keine Brieftasche mit sich herumtragen.»

Ich versuchte es von einer anderen Seite. «War es nicht eigenartig, dass sich der Arzt nicht meldete, der am Unfallort war?»

«Ein stark beanspruchter Arzt kommt oftmals nicht dazu, die Zeitungen zu lesen. Wahrscheinlich hat er das Ganze längst vergessen.»

«Sie scheinen sehr entschlossen, Inspektor», sagte ich liebenswürdig, «an der Sache nichts Auffallendes zu finden.»

«Ich glaube, Sie nehmen das alles zu wichtig, Miss Beddingfeld. Junge Damen sind eben romantisch veranlagt, ich weiß. Sie suchen gern Geheimnisse aufzustöbern. Aber ich bin ein vielbeschäftigter Mann.»

Der Untergebene erhob bescheiden seine Stimme. «Vielleicht würde uns die junge Dame in kurzen Worten erklären, was sie zu uns führt, Inspektor?»

Der Inspektor stimmte dem Vorschlag bereitwillig zu. «Ja. Setzen Sie sich wieder, Miss Beddingfeld, und seien Sie nicht gekränkt. Sie haben bisher nur Fragen gestellt und verschleierte Andeutungen gemacht. Bitte sagen Sie geradeheraus, was Sie denken. Sie äußerten bei der Leichenschau, es habe sich bestimmt nicht um Selbstmord gehandelt?»

«Ja, ich bin dessen ganz sicher. Der Mann war fürchterlich erschrocken. Wer oder was hatte ihn in eine solche Panik versetzt? Ich jedenfalls nicht. Aber jemand hätte hinter mir herkommen können – jemand, den er wiedererkannte.»

«Sie haben niemanden gesehen?»

«Nein», gab ich zu. «Ich habe den Kopf nicht gedreht. Doch kaum lag der Tote wieder auf dem Bahnsteig, da drängte sich auch schon ein Mann vor, um ihn zu untersuchen, und behauptete, er sei Arzt.»

«Das ist keineswegs ungewöhnlich», erwiderte der Inspektor trocken.

«Er war aber kein Arzt.»

«Was?»

«Er war kein Arzt», wiederholte ich ruhig.

«Woher wollen Sie das wissen, Miss Beddingfeld?»

«Das lässt sich schwer erklären. Ich habe während des Kriegs in Krankenhäusern geholfen und viele Ärzte bei der Arbeit gesehen. Ärzte besitzen eine gewisse Art von empfindungsloser Geschicklichkeit, die diesem Mann fehlte. Außerdem pflegen Ärzte für gewöhnlich nicht auf der rechten Seite eines Körpers nach dem Herzen zu suchen.»

«Und das tat dieser Mann?»

«Ja. Im ersten Moment fiel es mir nicht auf, ich hatte nur das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sei. Aber ich habe die Stellungen ausprobiert, als ich nach Hause kam, und da entdeckte ich natürlich, weshalb mir alles so unecht erschienen war.»

«Hm», machte der Inspektor. Langsam griff er nach Papier und Stift.

«Während dieser Mann den Körper abtastete, hatte er natürlich genügend Gelegenheiten, die Taschen zu leeren.»

«Das scheint mir unwahrscheinlich», entgegnete der Inspektor. «Aber können Sie mir den Mann beschreiben?»

«Er war groß und breitschultrig, trug einen dunklen Mantel und schwarze Schuhe sowie einen Filzhut. Er hatte einen dunklen Spitzbart und eine Brille mit Goldrand.»

«Nimmt man den Mantel, den Bart und die Brille weg, dann bleiben nicht viele Erkennungszeichen übrig», knurrte der Inspektor. «Er konnte sein ganzes Aussehen innerhalb von fünf Minuten ändern, wenn er wirklich der gerissene Taschendieb ist, für den Sie ihn zu halten scheinen.»

Das entsprach keineswegs meiner Ansicht. Aber von diesem Augenblick an gab ich den Inspektor als hoffnungslos auf.

«Ist das alles, was Sie uns über den Mann sagen können?», fragte er, als ich mich erhob.

«Nein», erwiderte ich lächelnd und ergriff die Gelegenheit zu einem letzten Schuss. «Seine Kopfform war ausgesprochen brachyzephal. Das wird er nicht so leicht ändern können.»

5

In der ersten Hitze der Empörung fiel mir mein nächster Schritt leicht. Ich hatte eigentlich nur einen ganz unklaren Plan gehabt für den Fall, dass mein Besuch bei Scotland Yard unbefriedigend verlaufen sollte – und er war mehr als das! Es schien mir allerdings vorher keineswegs sicher, dass ich den Mut dazu aufbringen würde.

Doch Dinge, die man mit ruhigem Blut kaum zu unternehmen wagt, werden in einer Aufwallung des Ärgers plötzlich ganz einfach. Ohne mir Zeit zum Überlegen zu lassen, begab ich mich umgehend zum Haus von Lord Nasby.

Lord Nasby war der millionenschwere Besitzer des Daily Budget. Durch eine kürzliche Publikation über den Tagesablauf des großen Mannes wusste ich, wo er sich im Moment aufhielt. Zu dieser Zeit war er mit seiner Sekretärin zu Hause beim Diktat.

Natürlich nahm ich nicht an, dass er jede beliebige junge Dame empfangen werde, die ihn zu sprechen wünschte. Doch dafür hatte ich vorgesorgt. Im Haus der Flemmings hatte ich eine alte Besucherkarte des Marquis of Loamsley entdeckt, dem berühmten Sportsmann. Diese hatte ich mit Brotkrumen gründlich gesäubert und darauf die Worte geschrieben: «Bitte schenken Sie Miss Beddingfeld ein paar Minuten Zeit.» Abenteuerinnen dürfen in ihren Methoden nicht zimperlich sein.