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«Sie müssen es gelesen haben, Miss. Es stand ja in allen Zeitungen. Das Daily Budget ist immer noch auf der Suche nach dem Mann, der den Mord beging. Die scheinen anzunehmen, dass unsere Polizei überhaupt nichts taugt. Ich hoffe natürlich, dass sie ihn erwischen werden, obwohl er so ein netter junger Mann war. Er hatte etwas Soldatisches an sich; wahrscheinlich wurde er im Krieg verwundet.»

«War sie eigentlich blond oder dunkel? Auf den Bildern konnte man es nicht erkennen», tastete ich mich vor.

«Dunkles Haar und ein ganz weißes Gesicht – viel zu weiß, um natürlich zu sein. Und die Lippen mit einem grausamen Rot angemalt. Ich mag so etwas nicht.»

«Schien sie nervös oder aufgeregt?»

«Gar nicht! Darum war ich ja so sprachlos, als jene Leute am nächsten Tag angerannt kamen und nach der Polizei schrien, weil ein Mord geschehen sei. Ich werde das nie vergessen können – auf jeden Fall setze ich keinen Fuß mehr in das Haus. Ich wäre nicht einmal hier im Pförtnerhaus geblieben, hätte mich Sir Eustace nicht kniefällig darum gebeten.»

«Ich nahm an, Sir Eustace Pedler sei an der Riviera?»

«Ja, er war dort, Miss. Aber natürlich kam er zurück, als er die Nachricht von dem Mord erhielt. Und was das ‹kniefällig› betrifft, so meinte ich das nicht wörtlich. Mr Pagett, sein Sekretär, bot uns das doppelte Gehalt an, wenn wir blieben. Und mein Mann sagt, Geld ist Geld heutzutage.»

Ich stimmte von Herzen dieser nicht besonders originellen Ansicht bei.

«Dieser junge Mann», kam Mrs James wieder auf ihn zurück, «der war vielleicht aufgeregt. Seine Augen – sie fielen mir auf, weil sie so hell waren, und sie glitzerten. Ich dachte, es sei vor Freude. Nie im Leben hätte ich ihm etwas Böses zugetraut. Nicht einmal, als er zurückkam und so wunderlich aussah.»

«Wie lange war er denn im Haus?»

«Gar nicht lange, höchstens fünf Minuten.»

«Er war groß, sagen Sie, nicht wahr?»

«O ja, sicher ein Meter achtzig oder so.»

«Und glattrasiert?»

«Ja, Miss, nicht die kleinste Spur eines Barts.»

«Hat sein Kinn nicht stark geglänzt?», fragte ich in einer plötzlichen Eingebung.

Mrs James starrte mich ehrfürchtig an. «Tatsächlich, Miss! Jetzt, da Sie es sagen, erinnere ich mich wieder. Aber wieso wussten Sie das?»

«Ach, ich habe gehört, dass Mörder oft ein glänzendes Kinn haben», behauptete ich einfach.

Mrs James nahm meine merkwürdige Erklärung gutgläubig hin. «Tatsächlich, Miss? Das wusste ich nicht.»

«Sie haben nicht zufällig bemerkt, was er für eine Kopfform hatte?»

«Die übliche, Miss. Soll ich Ihnen jetzt die Schlüssel holen?»

Ich nahm die Schlüssel in Empfang und ging zum Haus. Bis jetzt hatte ich gute Fortschritte gemacht. Jedenfalls hatte die Unterhaltung ergeben, dass keine wesentlichen Unterschiede bestanden zwischen dem «Arzt», an der U-Bahn-Station und dem jungen Mann, den Mrs James beschrieben hatte. Ein Mantel, ein Bart und eine Brille mit Goldrand. Der vermeintliche Arzt hatte einen älteren Eindruck gemacht, aber ich erinnerte mich, dass seine Bewegungen eher die eines jungen Menschen waren.

Das Opfer des Unfalls – der «Mottenkugel-Mann», wie ich ihn von nun an nannte – und die Ausländerin Mrs de Castina, oder wie immer sie heißen mochte, hatten eine Verabredung im Haus zur Mühle gehabt. So stellte ich mir die Sache vor. Entweder befürchteten sie eine Verfolgung, oder sie hatten einen anderen Grund, diese geheimnisvolle Art des Zusammentreffens zu wählen.

Der «Mottenkugel-Mann», hatte auf dem Bahnsteig sicherlich den «Doktor», erblickt, und diese Begegnung musste für ihn so unerwartet gewesen sein, dass er vor Schreck taumelte. Das schien mir völlig klar. Und was war dann geschehen? Der falsche Arzt legte rasch seine Verkleidung ab und folgte der Frau nach Marlow. Wenn er aber in Eile war, konnten noch Überreste des Klebemittels, mit dem er den Bart befestigt hatte, an seiner Haut haften. Daher meine Frage nach einem glänzenden Kinn.

Tief in Überlegungen versunken, gelangte ich zu dem Haus. Ich öffnete die Tür mit meinem Schlüssel und trat ein. Die Halle war niedrig und dunkel, ein muffiger Geruch drang mir entgegen. Ein Schauder befiel mich, und mein Herz begann zu hämmern. War das Haus wirklich leer? Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich das viel gebrauchte Wort «Atmosphäre». Hier war es am Platz: Das ganze Haus war erfüllt von einer Atmosphäre der Grausamkeit, der Drohung – des Bösen.

7

Ich schüttelte dieses Gefühl ab und eilte rasch die Treppe hinauf. Es war nicht schwierig, das Zimmer zu finden, in dem die Tragödie stattgefunden hatte. Als der Mord entdeckt wurde, hatte es geregnet, und jemand mit großen, feuchten Schuhen war in allen Richtungen durch das Zimmer getrampelt.

An dem Raum selbst war nichts Besonderes zu entdecken. Er war groß und völlig leer, die Wände waren weiß getüncht. Ich untersuchte ihn sorgfältig, aber nicht einmal eine Stecknadel ließ sich finden.

Ich hatte einen Notizblock und einen Bleistift bei mir und notierte pflichtschuldigst alle Beobachtungen, obschon es wirklich nichts zu beobachten gab. Als ich im Begriff war, den Bleistift wieder in die Tasche zu stecken, glitt er mir aus den Fingern und kullerte über den Boden.

Das Haus zur Mühle war alt und der Fußboden uneben. Mein Bleistift rollte immer rascher, bis er unter einem Fenster liegen blieb. Jede Fensternische war mit einem breiten Sims versehen, und darunter befand sich ein kleines, eingebautes Schränkchen. Mein Bleistift lag direkt vor der Tür eines solchen Schränkchens, das mir bisher nicht aufgefallen war, weil kein Licht darauf fiel. Ich öffnete die Tür, aber der Hohlraum dahinter erwies sich als völlig leer. Doch da ich nun mal eine gründliche Natur bin, ging ich zum zweiten Fenster hinüber und tastete auch dort den kleinen Kasten ab. Zuerst schien dieser ebenfalls leer zu sein, doch schließlich fühlte meine Hand in der hintersten Ecke etwas Kleines, Hartes. Ich zog es heraus – es war ein Kodak-Film. Endlich ein Fund!

Natürlich mochte dieser Film schon lange dort gelegen haben und war beim Ausräumen des Zimmers übersehen worden. Aber daran glaubte ich nicht. Das rote Lichtschutzpapier sah viel zu neu aus und war kaum staubig.

Wer hatte ihn dort versteckt? Die Frau oder der Mann? Plötzlich schnüffelte ich misstrauisch. Wurde der Geruch von Mottenkugeln eine fixe Idee von mir? Ich hätte schwören mögen, dass auch der Film danach roch. Ich betrachtete die kleine Rolle näher und bemerkte einen Wollfaden, der sich an der Spule festgeklemmt hatte, und dieser Faden roch durchdringend nach Mottenkugeln! Zu irgendeinem Zeitpunkt musste sich dieser Film also in der Manteltasche des Mannes befunden haben, der an der U-Bahn-Station verunglückte. Sollte auch er in diesem Hause gewesen sein? Kaum, denn das hätte man durch Mrs James erfahren.

Nein, es musste sich um meinen «Mann im braunen Anzug», handeln! Er hatte den Film und den Zettel aus der Tasche des Verunglückten genommen. Höchstwahrscheinlich war er während seines Kampfes mit der Frau hinuntergefallen und unbemerkt über den Fußboden gerollt.

Ich hatte einen Fingerzeig erhalten! Als Nächstes musste ich zu einem Fotografen gehen und den Film entwickeln lassen. Das würde mir den Weg zum weiteren Vorgehen weisen.

In gehobener Stimmung verließ ich das Haus zur Mühle und gab Mrs James die Schlüssel zurück.

Am nächsten Morgen beeilte ich mich, mein kostbares Röllchen zum Entwickeln zu bringen. Ohne daran zu denken, dass dies auch in der Nähe möglich gewesen wäre, ging ich den langen Weg bis zur Regent Street in ein Spezialgeschäft. Der junge Mann an der Theke löste das Lichtschutzpapier von der Spule, dann blickte er mich lächelnd an.

«Sie haben sich wohl geirrt, Miss», meinte er.

«Nein, bestimmt nicht», entgegnete ich.

«Aber der Film ist noch gar nicht belichtet.»

Ich verabschiedete mich mit soviel Würde, wie ich aufbringen konnte. Es tut manchmal ganz gut, wenn man entdeckt, was für ein Dummkopf man ist.