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Bei der Werkstatt eines Mechanikers blieb Arnold stehen und betrachtete die ausgehängten Flinten und Hirschfänger. Die Werkstatt lag einige Treppen tiefer als die Straße. Arnold ging hinunter und verlangte einen Revolver. Er wählte eine billige und gewöhnliche Waffe, bezahlte den geringen Preis und empfahl sich freundlich. Er schritt den Hügel hinan, kam wieder in die freie Landschaft und sah plötzlich hinter dem Zaun ihres Gärtchens Agnes Hanka. Sie schüttelte Zwetschgen von den Bäumen und sah gesund aus. Kaum hatte sie Arnold erkannt, als sie freudig winkend zum Pförtchen schritt und ihm schüchtern lächelnd die Hand reichte. »Ich weiß, daß Sie mit Alexander befreundet sind,« sagte sie, »da sind Sie also auch mein Freund.«

Arnold errötete. Er begriff in diesem Augenblick, was ihn und Hanka auseinandergerissen hatte. Kopfschüttelnd antwortete er: »Hanka und ich sind Freunde gewesen; wir sind es nicht mehr durch meine Schuld.« Agnes lächelte, wie Frauen über Männerumtriebe zu lächeln pflegen. Sie nahm es nicht recht ernst. Indem sie offen in Arnolds frisches und von innen strahlendes Gesicht blickte, welches keine Übernächtigkeit zeigte, lud sie ihn zu einem Butterbrot und einem Glas Wein ins Haus. Sie wünschte stets zu geben; da dies für sie am leichtesten und unverfänglichsten war, machte sie ihre Speisekammer zu einem Vorzimmer ihres Herzens.

Arnold hatte Hunger und nahm die Einladung an. Alsbald setzte Agnes Brot, Schinken, Butter, Honig und eingemachte Früchte vor ihn hin, rückte einen Stuhl an die andere Seite des Tisches und sah gerührt und dankbar dem eifrig Essenden zu, denn sie hatte seit langer Zeit keinen Gast mehr in ihrem Hause gehabt. Arnold erzählte mit Vorsicht von Hanka, denn er erinnerte sich, daß er gewisse Geheimnisse vor Agnes nicht preisgeben dürfe. Als er genug gegessen, getrunken und erzählt hatte, erhob er sich, reichte der lieben Wirtin die Hand und ging.

In ziemlich weitem Bogen führte sein Weg gegen den Ansorge-Hof. Als er das Haus betrat, erfuhr er von Ursula, daß um sieben Uhr morgens ein Arzt und ein Wärter angekommen seien und schon zwei Stunden später seien Borromeo und Christian mit jenen beiden wieder abgereist. Arnold zuckte zusammen, als er dies vernahm, wie wenn sich längstvergessenes Unheil wieder vor seinem inneren Blick entfalte; aber dies war nur ein letztes Gedenken. Ruhig wanderte er eine Zeit über im Hof auf und ab. Dann trat er von neuem ins Haus, suchte einen Bogen reinen Papiers aus der Lade, wo dergleichen verwahrt wurde, setzte sich nicht ohne Umständlichkeit an einen Tisch und schrieb: »Der Ansorge-Hof fällt nach meinem Tode mit allem beweglichen und unbeweglichen Gut an unsere alte Dienerin Ursula Kämmerer. Mein in ungarischen Staatspapieren auf der Depositenbank liegendes Barvermögen im Betrage von achtmalhundertvierzigtausend Gulden laut Kontokorrent vom 1. Juli a. c. vermache ich meinem Freunde, dem Statthaltereibeamten Ludwig Wolmut, zurzeit in Graz. Er soll es auf eine solche Weise verwenden, die dem in unsern gemeinschaftlichen Gesprächen oft aufgestellten Ideal angemessen ist. Ich vertraue ihm. Bei klarem Bewußtsein meiner selbst und in gerechter Selbstbestimmung habe ich dies niedergeschrieben zu Podolin in Mähren, am 27. Oktober. Arnold Ansorge.«

Sechzigstes Kapitel

Es war zwei Uhr nachmittags, als Arnold das Haus verließ.

Er ging ein Stück am Fluß entlang, bis er zu einem verwahrlosten Hüttchen kam. Am Ufer hockten ein Mann und ein Weib und flickten Netze. Im Wasser lag ein kleines Boot. Arnold bat die Leute um das Fahrzeug; er wolle nur bis zum Wald hinunter rudern. Zugleich gab er dem Mann ein Guldenstück und stieg ein. Stehend, mit der Stange stieß er das Boot flußabwärts, wobei er lange Ruhepausen machte, um den strahlenden Himmel oder sein dunkleres Abbild im dunklen Wasser zu betrachten. Es schien ihm, als gleite er zwischen zwei Himmeln dahin.

An einer ziemlich einsamen Stelle, wo der Wald an beiden Ufern dicht zum Wasser trat, legte Arnold an und kettete das Boot an einen Stamm. Seine Blicke fielen auf das hellgrüne Moos, den Blätterteppich, die glitzernden Gräserspitzen, das Mückengewimmel in der weißlichen Luft, durch gelbe und goldene Sonnenstrahlen schießend. Er horchte auf das feine Sausen des Windes hoch in den Kronen, auf vielfältige, schläfrige, halberstorbene Laute, Zweigeknacken, Blätterrascheln, das Flattern kleiner Vögel. Die meisten Sträucher waren schon kahl; auf einem kleinen Wiesenstück standen Hunderte violetter Herbstzeitlosen. In der Tiefe des Forstes ertönte Hundegekläff, dann ebenso fern das Knallen einer Peitsche. Bisweilen stieg ein Hauch wie Nebel zwischen den Stämmen empor.

Die Sonne war am Sinken. Rötlich zitterten die Tannennadeln in der Luft. Der Himmelsausschnitt, den eine Lichtung wahrnehmen ließ, veränderte sein sattes Tiefblau ins Grünlich-Violette. Arnold legte sich auf eine Schicht von braunem Nadelwerk. Mit der Hand haschte er nach den Fäden des Altweibersommers, die ihn umschwebten. Vertieft blickte er dann auf einen Ameisenzug neben seiner Schulter, und er fühlte sich klein wie eine Grille und betrachtete liebend diese Welt der Ameisen und den Wald der Gräser von unten und innen. Seine Züge wurden noch ruhiger als bisher, aber auch ernster. Er rückte ein wenig hinauf, um sich bequem an den dicken Stamm der Föhre lehnen zu können, die von allen ringsum am höchsten ragte, als erste das Abendrot an ihrer Spitze auffing und im Osten zugleich den Mond begrüßte. Arnold pflückte einen Grashalm und zog ihn lächelnd durch den Mund, so daß die tauige Feuchtigkeit seine Lippen erfrischte. Dann öffnete er den Rock und das Hemd, zog den Revolver aus der Tasche und drückte die Laufmündung fest gegen die linke Brust.

Ende

Von Jakob Wassermann ist im gleichen Verlag erschienen:

Die Geschichte der jungen Renate Fuchs. Roman. 9. Auflage.

Die Juden von Zirndorf. Roman. Neubearbeitete Ausgabe.

Der niegeküßte Mund. Hilperich. Novellistische Studien.

Alexander in Babylon. Roman. Dritte Auflage.

Die Schwestern. Drei Novellen. Dritte Auflage.

Bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart:

Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Roman. 6. Aufl.

Von Jakob Wassermann ist im gleichen Verlage erschienen:

Die Juden von Zirndorf

Roman. Neubearbeitete Ausgabe

Geh. M. 4.–, geb. M. 5.–

Der Verfasser der »Geschichte der jungen Renate Fuchs«, Jakob Wassermann, hat seinen vor zehn Jahren erschienenen Roman »Die Juden von Zirndorf« in einer neubearbeiteten Ausgabe herausgegeben, der die Kürzungen trefflich zustatten gekommen sind. Ein merkwürdiger Roman, diese »Juden von Zirndorf«. Kaum je hat ein jüdischer Poet seinen Glaubensgenossen und über das Judentum der Gegenwart überhaupt schärfere und zutreffendere Dinge gesagt, als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften des jüdischen Volkes erscheinen in ihm selbst verkörpert, vor allem der kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont. Mit diesem verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch mehr mystisch als sinnlich glühende Phantasie, der namentlich in dem phantastischen »Vorspiel« des Romans, welches eine mit dem Erscheinen des merkwürdigen Messias Sabbatai Zewi verknüpfte Judenverfolgung im siebzehnten Jahrhundert behandelt, eine glänzende poetische Leistung gelungen ist. Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu der in unseren Tagen spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«, in denen ein begabter Jüngling Agathon, in dem das edelste Judentum verkörpert ist, die von einem brutalen Christen erduldete Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger rächt. Dennoch beweist der Dichter sowohl in der reichen Fülle feingezeichneter Charaktere als im Gange der Handlung die vollkommenste Objektivität.