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Auch Kipler bemüht sich, keine Miene zu verziehen.»Die Nachverhandlung findet in ungefähr einer Woche statt. Meine Sekretärin wird Sie über den Termin informieren. Sonst noch etwas?«

Ich schüttle den Kopf. Was könnte ich mehr verlangen?

Ohne aufzustehen, sagt Leo leise:»Nichts, Euer Ehren. «Sein Team ist plötzlich damit beschäftigt, Papiere in Aktenkoffer und Akten in Kartons zu verstauen. Sie können es kaum erwarten, von hier zu verschwinden. Dies ist bei weitem das höchste Urteil in der Geschichte von Tennessee, und sie werden für alle Zeiten abgestempelt sein als die armen Schweine, die es einstecken mußten. Wenn ich nicht so erschöpft und nicht so fassungslos wäre, würde ich vielleicht sogar hinübergehen und ihnen die Hand geben. Das wäre die feine Art, aber mir ist einfach nicht danach zumute. Es ist wesentlich leichter, hier neben Dot zu sitzen und Donny Rays Namen auf meinem Block zu betrachten.

Ich bin nicht wirklich reich. Die Berufung wird ein Jahr kosten, vielleicht auch zwei. Und das Urteil ist so enorm, daß mit einer bitterbösen Attacke zu rechnen ist. Ich werde also alle Hände voll zu tun haben.

Aber im Augenblick habe ich das Arbeiten restlos satt. Ich möchte mich in ein Flugzeug setzen und mir einen einsamen Strand suchen.

Kipler läßt seinen Hammer niederfahren, und dieser Prozeß ist offiziell beendet. Ich werfe einen Blick auf Dot und sehe die Tränen. Ich frage sie, wie sie sich fühlt. Deck kommt rasch mit Glückwünschen herbei. Er ist blaß, aber er grinst, und seine Schneidezähne funkeln. Meine Aufmerksamkeit gilt Dot. Sie ist eine harte Frau, die nur sehr widerstrebend weint, aber sie verliert langsam die Fassung. Ich tätschele ihren Arm und gebe ihr ein Papiertaschentuch.

Booker kneift mich in den Nacken und sagt, er würde mich nächste Woche anrufen. Cooper Jackson, Hurley und Grunfeld kommen an meinen Tisch, strahlend und des Lobes voll. Sie müssen eine Maschine erreichen. Wir telefonieren am Montag. Der Reporter kommt, aber ich winke ab. Ich nehme diese Leute kaum zur Kenntnis, weil ich mir Sorgen um meine Mandantin mache. Sie klappt jetzt zusammen, ihr Schluchzen wird immer lauter.

Ich ignoriere auch Drummond und seine Leute, die sich jetzt, wie Packesel beladen, schleunigst verziehen. Kein Wort wird zwischen uns gewechselt. Im Augenblick wäre ich gern eine Fliege an der Wand von Trent & Brent.

Der Gerichtsdiener, die Protokollantin und der Kanzlist packen ihre Sachen zusammen und verschwinden. Außer mir, Dot und Deck ist niemand mehr im Saal. Ich muß mit Kipler sprechen, ihm dafür danken, daß er meine Hand gehalten und es möglich gemacht hat. Ich werde es später tun. Im Augenblick halte ich Dots Hand, während sie eine Sturmflut entlädt. Deck sitzt neben uns und sagt nichts. Ich sage nichts. Meine Augen sind feucht, mir tut das Herz weh. Das Geld ist ihr völlig gleichgültig. Sie möchte ihren Jungen wiederhaben.

Jemand, vermutlich der Gerichtsdiener, drückt in dem schmalen Gang neben den Geschworenenbänken auf einen Schalter, und die Lichter gehen aus. Der Saal liegt im Halbdunkel.

Keiner von uns rührt sich. Das Weinen läßt nach. Sie wischt sich die Wangen mit dem Taschentuch ab und manchmal mit den Fingern.

«Tut mir leid«, sagt sie heiser. Sie möchte fort von hier, also beschließen wir, zu gehen. Ich tätschele ihren Arm, während Deck unseren Kram zusammensucht und in drei Aktenkoffern verstaut.

Wir verlassen den unbeleuchteten Gerichtssaal und treten auf den marmorverkleideten Flur. Es ist fast fünf Uhr, Freitag nachmittag, und es herrscht nicht viel Betrieb. Keine Kameras, keine Reporter, keine Horde, die auf mich wartet, um vom Anwalt des Augenblicks ein paar Worte und Aufnahmen zu erhäschen.

Niemand nimmt uns zur Kenntnis.

Kapitel 50

Der letzte Ort, wo ich jetzt sein möchte, ist das Büro. Ich bin zu müde und zu benommen, um in einer Bar zu feiern, und der einzige, der mir in diesem Moment Gesellschaft leistet, ist Deck, ein Nicht-Trinker. Zwei steife Drinks wären ohnehin genug, um mich ins Koma fallen zu lassen, also gerate ich gar nicht erst in Versuchung. Irgendwo sollte jetzt eine tolle Siegesfeier stattfinden, aber dergleichen läßt sich schwer planen, wenn man es mit einer Jury zu tun hat.

Vielleicht morgen. Ich bin sicher, daß morgen der erste Schock vorbei sein und eine verzögerte Reaktion auf das Urteil einsetzen wird. Bis dahin werde ich die Realität begriffen haben. Morgen werde ich feiern.

Ich verabschiede mich vor dem Gericht von Deck, sage ihm, daß ich völlig erledigt bin, und verspreche, daß wir uns später treffen werden. Wir stehen beide noch unter Schock und brauchen Zeit zum Nachdenken, allein. Ich fahre zu Miss Birdies Haus und absolviere meine tägliche Routine, indem ich einmal alle Zimmer abgehe. Nur ein Tag wie jeder andere. Nichts Besonderes. Ich setze mich auf ihre Terrasse, starre zu meiner kleinen Wohnung hinauf und fange zum erstenmal an, Geld auszugeben. Wie lange wird es dauern, bis ich mein erstes hübsches Haus kaufe oder baue? Was für einen neuen Wagen soll ich mir anschaffen? Ich versuche, diese Gedanken zu verdrängen, aber es ist unmöglich. Was fängt man mit sechzehneinhalb Millionen Dollar an? Ich kann es einfach nicht fassen. Ich weiß, daß Dutzende von Dingen schief gehen können. Das Urteil könnte aufgehoben und der Fall vor einem anderen Gericht neu verhandelt werden; das Urteil könnte für nichtig erklärt werden, und ich bekäme gar nichts; die Geldstrafe könnte von einem Berufungsgericht drastisch herabgesetzt oder vollständig verworfen werden. Ich weiß, daß diese schrecklichen Dinge passieren können, aber im Augenblick gehört das Geld mir.

Ich träume, während die Sonne untergeht. Die Luft ist klar,

aber sehr kalt. Vielleicht kann ich morgen damit anfangen, das Ausmaß dessen, was ich getan habe, zu begreifen. Im Augenblick wärmt mich der Gedanke, daß eine Menge Gift aus meiner Seele herausgeschwemmt worden ist. Fast ein Jahr lang habe ich mit einem verzehrenden Haß auf dieses mysteriöse Wesen gelebt, das sich Great Benefit nennt. Ich war erfüllt von Bitterkeit gegen die Leute, die dort arbeiten. Sie haben eine Folge von Ereignissen in Gang gesetzt, die Donny Ray das Leben kosteten. Ich hoffe, Donny Ray ruht in Frieden. Bestimmt wird ein Engel ihm sagen, was heute passiert ist.

Sie sind bloßgestellt und für ihre Missetaten bestraft worden. Ich hasse sie nicht mehr.

Kelly zerteilt ihr schmales Stück Pizza mit einer Gabel und ißt winzige Häppchen. Ihre Lippen sind immer noch geschwollen und ihre Wangen und Kiefer sehr empfindlich. Wir sitzen auf ihrem Bett, mit ausgestreckten Beinen, den Rücken an der Wand; der Pizzakarton liegt zwischen uns. Auf einem Fünf-undvierzig-Zentimeter-Sony, der in dem kleinen Zimmer nicht weit von uns auf einer Kommode steht, sehen wir uns einen Western mit John Wayne an.

Sie trägt denselben grauen Jogginganzug, keine Socken oder Schuhe, und ich sehe eine kleine Narbe an ihrem rechten Knöchel, den er ihr im letzten Sommer gebrochen hat. Sie hat ihr Haar gewaschen und zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft. Sie hat ihre Fingernägel lackiert, leuchtendrot. Sie versucht Konversation zu machen, aber sie hat so starke Schmerzen, daß sie es nicht recht schafft, lustig zu sein. Wir reden nicht viel. Ich bin noch nie zusammengeschlagen worden, und es fällt mir schwer, mir die seelischen Nachwirkungen vorzustellen. Die körperlichen Schmerzen sind relativ leicht zu begreifen, nicht aber der psychische Schock. Ich frage mich, wann er wohl beschlossen haben mag, aufzuhören, Schluß zu machen und sein Werk zu bewundern.