Das Telefon läutet. Deck nimmt den Hörer ab, hört zu, dann legt er rasch wieder auf.»Irgendein Kerl sagt, er wird Sie umbringen«, sagt er sachlich.
«Das ist nicht der schlimmste Anruf des Tages.«
«Im Augenblick würde es mir nichts ausmachen, erschossen zu werden«, sagt er.
Kellys Anblick hebt meine Stimmung. Wir essen wieder chinesisch in ihrem Zimmer, bei abgeschlossener Tür und mit meiner Waffe unter meinem Mantel auf einem Stuhl.
Es gibt so viele Gefühle, die uns bedrängen und um Beachtung wetteifern, daß die Unterhaltung nicht leicht ist. Ich erzähle ihr von Great Benefit, und sie ist nur traurig, weil ich so mutlos bin. Das Geld bedeutet ihr nichts.
Manchmal lachen wir, manchmal weinen wir beinahe. Sie macht sich Sorgen darüber, was die Polizei tun oder herausfinden könnte. Sie hat fürchterliche Angst vor dem Riker-Clan Diese Leute sind schon als Fünfjährige auf die Jagd gegangen. Waffen gehören für sie zum täglichen Leben. Sie hat Angst davor, wieder ins Gefängnis zurückkehren zu müssen, obwohl ich ihr versichere, daß es dazu nicht kommen wird. Wenn die Polizei und die Staatsanwaltschaft tatsächlich Anklage gegen sie erheben sollten, werde ich vortreten und die Wahrheit sagen.
Ich komme auf den gestrigen Abend zu sprechen, und sie erträgt es nicht. Sie beginnt zu weinen, und wir schweigen lange Zeit.
Ich schließe die Tür auf und gehe leise den dunklen Korridor entlang durch das weitläufige Haus, bis ich Betty Norvelle finde, die in ihrem Zimmer allein vor dem Fernseher sitzt. Sie kennt nur Bruchstücke dessen, was gestern abend passiert ist. Ich erkläre, daß Kelly im Moment zu labil ist, um allein gelassen zu werden. Ich muß bei ihr bleiben und bin bereit, notfalls auf dem Fußboden zu schlafen. In diesem Haus ist es streng verboten, daß Männer über Nacht bleiben, aber in diesem Fall macht sie eine Ausnahme.
Wir liegen zusammen auf dem schmalen Bett, auf den Dek-ken, und halten uns eng umschlungen. Ich habe vorige Nacht überhaupt nicht geschlafen und heute nachmittag nur ein kurzes Nickerchen gemacht, und mir ist zumute, als hätte ich in der ganzen vergangenen Woche keine zehn Stunden geschlafen. Ich kann sie nicht an mich drücken, weil ich Angst habe, ihr weh zu tun. Ich drifte davon.
Kapitel 53
Das Hinscheiden von Great Benefit mag in Cleveland eine Sensation sein, aber in Memphis nimmt man es kaum zur Kenntnis. Es steht kein Wort darüber in der Mittwochszeitung. Sie enthält einen kurzen Bericht über Cliff Riker. Die Autopsie hat ergeben, daß er an mehreren Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf gestorben ist. Seine Witwe ist verhaftet und wieder freigelassen worden. Seine Familie will Gerechtigkeit. Seine Beisetzung findet morgen in dem kleinen Nest statt, aus dem er und Kelly geflüchtet sind.
Während Deck und ich die Zeitung lesen, trifft ein Fax aus Peter Corsas Kanzlei ein. Es ist die Kopie eines langen Artikels auf der Titelseite einer Zeitung in Cleveland mit den neuesten Entwicklungen im PinnConn-Skandal. Mindestens zwei Geschworenengerichte werden sich mit der Sache befassen. Ganze Wagenladungen von Klagen werden eingereicht gegen diese Firma und ihre Tochtergesellschaften, insbesondere Great Beneft, deren Konkursanmeldung einen eigenen Artikel verdient. Überall werden Anwälte aktiv.
M. Wilfred Keeley wurde gestern nachmittag am KennedyFlughafen festgenommen, als er eine Maschine nach Heathrow besteigen wollte. Seine Frau war bei ihm, und sie behaupteten, sie wollten nur einen kurzen Urlaub machen. Sie waren jedoch nicht imstande, den Namen eines Hotels in Europa anzugeben, in dem sie erwartet würden.
Es sieht so aus, als wären die Firmen in den letzten beiden Monaten restlos ausgeplündert worden. Anfangs wurde das Geld dazu benutzt, Fehlinvestitionen auszugleichen; dann haben sie es einbehalten und in Steueroasen auf der ganzen Welt transferiert. Auf jeden Fall ist es verschwunden.
Der erste Anruf des Tages kommt von Leo Drummond. Er erzählt mir von Great Beneft, als hätte ich keine Ahnung. Wir unterhalten uns kurz, und es ist schwer zu sagen, wer deprimierter ist. Keiner von uns wird für den Krieg bezahlt werden, den wir gerade geführt haben. Seine Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Mandanten über mein Vergleichsangebot erwähnt er nicht; das hat sich jetzt ohnehin von selbst erledigt. Sein ehemaliger Mandant ist nicht in der Verfassung, eine Klage wegen sträflichen Fehlverhaltens einzureichen. Er ist dem Black-Urteil wirkungsvoll entgangen, also kann er nicht behaupten, durch schlechte juristische Arbeit von Drummond geschädigt worden zu sein. Trent & Brent ist noch einmal davongekommen.
Der zweite Anruf kommt von Roger Rice, Miss Birdies neuem Anwalt. Er gratuliert mir zu dem Urteil. Wenn er wüßte! Er sagt, er habe über mich nachgedacht, seit er mein Foto in der Sonntagszeitung gesehen hat. Miss Birdie versucht, ihr Testament abermals zu ändern, und in Florida haben sie genug von ihr. Delbert und Randolph ist es schließlich gelungen, ihre Unterschrift auf einem selbstverfaßten Dokument zu bekommen, mit dem sie dann zu den Anwälten in Atlanta gefahren sind und eine volle Offenlegung des Vermögens ihrer Mutter verlangt haben. Die Anwälte mauerten. Die Brüder haben Atlanta zwei Tage lang belagert. Einer der Anwälte rief Roger Rice an, und die Wahrheit kam ans Licht. Delbert und Randolph fragten diesen Anwalt rundheraus, ob ihre Mutter zwanzig Millionen Dollar besäße. Daraufhin konnte der Anwalt nur lachen, und das brachte die beiden liebenden Söhne auf die Palme. Schließlich kamen sie zu dem Schluß, daß Miss Birdie sie zum besten hielt, und sie kehrten nach Florida zurück.
Spät am Montag abend rief Miss Birdie Roger Rice zu Hause an und teilte ihm mit, daß sie nach Memphis zurückkehren wolle. Sie sagte, sie hätte versucht, mich anzurufen, aber ich schiene sehr beschäftigt zu sein. Mr. Rice erzählte ihr von dem Prozeß und dem Fünfzig-Millionen-Dollar-Urteil, und das schien sie zu freuen.»Wie nett«, sagte sie.»Nicht schlecht für einen Gärtnergehilfen. «Die Tatsache, daß ich jetzt reich bin, schien sie mächtig zu beeindrucken.
Jedenfalls wollte Rice mich vorwarnen, daß sie jetzt jeden Tag zurückkehren kann. Ich danke ihm.
Morgan Wilson hat sich eingehend mit der Riker-Akte beschäftigt und neigt dazu, die Anklage fallenzulassen. Aber ihr Boß, Al Vance, hat sich noch nicht entschieden. Ich folge ihr in sein Büro.
Vance wurde schon vor vielen Jahren zum Staatsanwalt gewählt und hat keine Mühe, immer wiedergewählt zu werden. Er ist um die Fünfzig und hat früher ernsthaft eine höhere politische Karriere angestrebt. Doch dazu hat sich nie eine Gelegenheit ergeben, und jetzt hat er sich damit abgefunden, daß er in seinem Amt bleibt. Er verfügt über eine Eigenschaft, die bei Staatsanwälten äußerst selten ist — er verabscheut Kameras.
Er gratuliert mir zu dem Urteil. Ich danke ihm, möchte aber nicht darüber reden, aus Gründen, die ich in diesem Moment lieber für mich behalte. Ich nehme an, daß die Neuigkeiten über Great Benefit in weniger als zwanzig Stunden die Runde machen werden, und die Bewunderung, die man mir jetzt entgegenbringt, wird sich schlagartig verflüchtigen.
«Diese Leute sind Irre«, sagt er und wirft die Akte auf seinen Schreibtisch.»Sie haben mehrfach hier angerufen, allein zweimal heute morgen. Meine Sekretärin hat mit Rikers Vater und einem seiner Brüder gesprochen.«
«Was wollen sie?«frage ich.
«Den Tod Ihrer Mandantin. Vergeßt den Prozeß, schnallt sie einfach auf den elektrischen Stuhl, noch heute. Ist sie aus dem Gefängnis heraus?«
«Ja.«