»Es heißt, daß Ihr Finger aus Stahl habt«, sagte Ta-Kumsaw.
Measure blickte antwortheischend zu Al hinüber, doch Al fiel nichts ein. Also antwortete Measure ihm doch, indem er die Hände hob und mit den Fingern zappelte. »Sind ganz gewöhnliche Finger«, meinte er.
Ta-Kumsaw streckte den Arm aus und nahm ihn bei der Hand — es mußte ein kräftiger, harter Griff sein, denn Measure versuchte die Hand zurückzuziehen, konnte es aber nicht. »Eisenhaut«, sagte Ta-Kumsaw. »Läßt sich nicht mit Messer schneiden. Läßt sich nicht verbrennen. Jungen aus Stein.«
Er zog an Measure, bis dieser aufrecht stand, dann schlug er ihm mit der freien Hand hart auf den Oberarm. »Steinjunge, wirf mich zu Boden!«
»Ich kann nicht mit dir ringen«, widersprach Measure. »Ich will mit niemanden kämpfen.«
»Wirf mich!« befahl Ta-Kumsaw. Und dann löste er seinen Griff etwas, stemmte einen Fuß vor und wartete, bis Measure ebenfalls seinen Fuß vorstellte. Mit abgewandtem Gesicht, Mann gegen Mann, wie die Roten es bei ihren Spielen taten. Nur daß dies kein Spiel war, nicht für diese Jungen, die dem Tod ins Auge geblickt hatten und immer noch keine Gewißheit hatten, daß er hinter der nächsten Ecke nicht doch noch auf sie lauerte.
AI wußte nicht, was er tun sollte, aber wollte irgend etwas tun, um die sich wandelnden Ereignisse wieder einzuholen. So dachte er kaum über die Konsequenzen nach, als er im gleichen Augenblick, da Measure und Ta-Kumsaw aneinander zerrten und drückten, den Boden unter Ta-Kumsaws Fuß ganz locker werden ließ, so daß dieser durch seine Kraft plötzlich in den Schmutz stürzte.
Die anderen Roten hatten über den Ringkampf gelacht und gescherzt, doch als sie nun sahen, daß der größte Häuptling aller Stämme, ein Mann, dessen Name von Boston bis New Orleans jedermann kannte, so zu Boden ging, erstarb ihr Lachen plötzlich. Auf der ganzen Lichtung war kein einziges Geräusch mehr zu vernehmen. Ta-Kumsaw stand auf und musterte das Erdreich unter seinen Füßen, kratzte mit dem Fuß daran. Inzwischen war es natürlich wieder fest geworden. Doch er trat ein paar Schritte zur Seite aufs Gras und streckte erneut die Hand vor.
Diesmal war Measure schon etwas selbstbewußter und griff nach der Hand — doch Ta-Kumsaw riß sie im letzten Augenblick beiseite. Ganz still stand er da, ohne Measure oder Al oder sonst jemanden anzuschauen, starrte nur in die Leere, seine Miene war hart und gefaßt. Dann wandte er sich an die anderen Roten und ließ ein Stakkato von Shaw-Nee-Lauten auf sie los. Es hörte sich nicht sonderlich freundlich an, und als er damit fertig war, waren Al und Measure wieder gefesselt. Und als ihre zerfetzten Unterhosen von ihnen herabfielen und sie stolpern ließen, kam Ta-Kumsaw mit wütendem Gesicht zu ihnen hinüber und riß ihnen die Wäsche mit bloßen Händen vom Leib. Doch dies war nicht die Zeit für Proteste. Sie wußten nicht, wo Ta-Kumsaw sie hinbrachte, und da ihnen auch nichts anderes übrigblieb als mitzukommen, hatte es wohl wenig Zweck, zu fragen.
Noch nie in ihrem Leben waren Al und Measure so lang oder so weit gelaufen. Eine Stunde nach der anderen, Meile um Meile, nie allzu schnell, aber ohne Pause. Auf diese Weise konnte sich ein Roter schneller zu Fuß fortbewegen als ein Weißer auf einem Pferd.
Al bemerkte sehr schnell, daß die Roten anders durch den Wald gingen als er und Measure. Die einzigen Geräusche, die er hörte, waren seine und Measures Schritte. Da Al ein Stück weiter hinten ging, konnte er Measure beobachten. Der Rote, der Measure führte, pflegte Äste mit dem Körper beiseite zu biegen, die daraufhin nachgaben. Doch sobald Measure das gleiche versuchte, peitschten sie gegen seine Haut und brachen ab. Die Roten traten auf Zweige, ohne das leiseste Geräusch zu machen, während Al an derselben Stelle stolperte oder sich an der rauhen Rinde die Haut aufriß. Als Junge war Al es gewohnt, barfuß zu gehen, so daß seine Fußsohlen eine Hornhaut hatten. Measure trug schon seit einigen Jahren Erwachsenenstiefel, und Al sah, wie er bereits nach einer halben Meile zu bluten begann.
Und so kam Al auf die Idee, daß er die Füße seines Bruders heilen könnte. Er versuchte es, doch am Anfang fiel es ihm schwer, weil ihm das Laufen die Konzentration nahm. Aber er gab nicht auf, dachte nicht mehr an das Laufen und begab sich im Geiste ins Innere der Wunden. Danach war alles ein Kinderspiel. Er heilte die Füße, machte sie zäher, schwieliger. Dann spürte er, wie Measures Körper nach mehr Atemluft verlangte; so drang er im Geiste in die Lungen seines Bruders ein, um sie zu öffnen. Als Measure nun einatmete, konnte sein Körper mehr aus der Luft herausholen. Al hatte zwar keine genaue Vorstellung davon, was er da tat, aber er wußte, daß es funktionierte, weil der Schmerz in Measures Körper nachließ und sein Bruder nicht mehr so schnell ermüdete und nach Luft japste.
Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst richtete, stellte Al fest, daß er die ganze Zeit, während er Measure geholfen hatte, auf keinen Zweig getreten war, der unter ihm zerbrochen wäre, und er war auch von keinem zurückschnellenden Ast gepeitscht worden. Jetzt aber begann er wieder zu stolpern und Astwerk zu zerbrechen und sich die Haut aufzureißen. Zunächst glaubte er, daß dies auch vorher der Fall gewesen sei, nur daß er es eben nicht so recht bemerkt hätte, weil er mit Measure beschäftigt gewesen war. Aber kaum hatte er sich das eingeredet und begonnen, es selbst zu glauben, als er merkte, daß sich der Klang der Umwelt verändert hatte. Nun hörte er nur Atmen und bleichhäutige Füße auf dem Boden aufstampfen oder altes Laubwerk beiseite fegen. Dann und wann war ein Vogel oder eine summende Fliege zu hören. Nichts Bemerkenswertes, nur daß Al sich genau daran erinnerte, daß er nun, seitdem er Measures Körper geheilt hatte, etwas anderes nicht mehr hören konnte, was vorher dagewesen war, eine Art Musik, eine Art… grüner Musik. Ach, das war doch Unsinn! Musik konnte doch keine Farbe haben. Al schob den Gedanken beiseite, dachte einfach nicht mehr daran. Dennoch sehnte er sich danach, die Musik wieder zu vernehmen. Er wollte sie hören oder sehen oder riechen. Wie immer sie auch zu ihm kommen mochte, er wollte sie wiederhaben.
Und da war noch etwas. Bis er aus sich selbst herausgetreten war, um Measure zu helfen, war es seinem eigenen Körper auch nicht besonders gut gegangen; tatsächlich war er fast völlig erschöpft gewesen. Jetzt aber war alles in Ordnung, seinem Körper ging es gut, er atmete tief, Beine und Arme fühlten sich an, als könnte er in alle Ewigkeit so weitergehen, sie waren in ihrer Bewegung so beharrlich wie Bäume in ihrer Reglosigkeit. Vielleicht lag es daran, daß er zusammen mit Measure auch sich selbst irgendwie geheilt hatte. Doch das glaubte er nicht so recht, denn er wußte immer, was er tat und was nicht. Nein, Al Junior glaubte, daß es seinem Körper aus einem anderen Grund besser ging. Und dieser andere Grund gehörte entweder zur grünen Musik oder verursachte sie. Genauer bekam Al es nicht heraus.
Wie sie so weiterliefen, hatten Al und Measure keine Gelegenheit, sich miteinander zu unterhalten, bis die Nacht einbrach und sie ein Dorf der Roten an einer Biegung eines dunklen, tiefen Flusses erreichten. Ta-Kumsaw führte sie mitten ins Dorf, dann ging er davon und ließ sie stehen. Der Fluß war vielleicht hundert Ellen von ihnen entfernt, zwischen ihnen und dem Wasser lag der grasbewachsene Abhang.
»Meinst du, wir schaffen es bis zum Fluß, ohne daß sie uns erwischen?« flüsterte Measure.
»Nein«, erwiderte Al. »Und außerdem kann ich nicht schwimmen. Pa hat mich ja nie ans Wasser gelassen.«
Dann kamen all die Roten Frauen und Kinder aus ihren Lehmhütten und zeigten mit den Fingern auf die beiden nackten Weißen, auf den Mann und den Jungen, und lachten und bewarfen sie mit Grasbüscheln. Zuerst versuchten Al und Measure dem auszuweichen, doch da lachten die Roten um so mehr und rannten immer und immer wieder um sie herum, bewarfen sie aus verschiedenen Winkeln mit Schlamm, versuchten, sie im Gesicht zu treffen. Schließlich setzte Measure sich einfach aufs Gras, legte das Gesicht auf die Knie und ließ sie werfen, soviel sie wollten. Al tat es ihm gleich. Plötzlich brüllte jemand einige wenige Worte, und die Roten hörten auf zu werfen. Als er den Blick hob, sah Al, wie Ta-Kumsaw davonging, während zwei seiner Krieger dablieben und dafür sorgten, daß nichts geschah.