Die Ehe zwischen Luet und Nafai war jedoch keine, wie sie ständig in Basilika geschlossen wurde. Zum einen waren die beiden noch so jung. Luet war erst dreizehn. Es war eigentlich fast barbarisch — wie bei den Waldstämmen der Nordküste, wo ein Mädchen zur Braut wurde, noch bevor ihr erstes Blut zu tropfen aufgehört hatte. Nur Huschidhs Wissen, daß die Überseele die beiden zusammengeführt hatte, bewahrte sie davor, vor der Zeremonie zurückzuschrecken. Trotzdem verspürte sie noch einen tiefen Zorn, den sie nicht ganz verstand, als sie zusah, wie die beiden ihre Hände aufeinander legten, die Eide leisteten und sich behutsam küßten, während Tante Rasas Hände auf ihren Schultern lagen. Warum hasse ich diese Ehe so sehr, fragte sie sich. Denn sie sah doch, daß Luet voller Hoffnung und Freude war, daß Nafai sie verehrte und ihr gefallen wollte – was mehr hätte Huschidh für ihre liebe Schwester erhoffen können, für ihre einzige Verwandte auf der ganzen Welt?
Doch als die Zeremonie beendet war und die frisch verheirateten Paare lachend und von Blumen übersät zurück ins Haus und die Treppe zu ihren Balkonzimmern hinaufgingen, konnte Huschidh sich nicht einmal dazu zwingen zu warten, bis ihre Schwester außer Sicht war. Sie floh einen Dienstbotenkorridor entlang und lief nicht in ihr Zimmer, sondern auf das Dach, auf das sie und Luet sich so oft gemeinsam zurückgezogen hatten.
Doch selbst hier glaubte sie, in der zunehmenden Dunkelheit des Abends noch die Schatten von Luets und Nafais erster Umarmung, ihrem ersten Kuß, sehen zu können. Es erfüllte sie mit Zorn, und sie warf sich auf den Teppich, schlug mit den Fäusten auf den dicken Stoff, weinte bitterlich und schluchzte: »Nein, nein, nein, nein.«
Wozu sagte sie nein? Sie wußte es selbst nicht. Dann lag sie da und weinte, bis sie, müde von zu viel Wissen und zu wenig Verständnis, in der abkühlenden Luft der Nacht über Basilika einschlief. Spät im Frühling wehten die Brisen feucht und kühl vom See und trocken und warm von der Wüste hinüber und trafen sich auf den Straßen und Dächern der Stadt zu ihrem turbulenten Tanz. Huschidhs Haar verfing sich in diesen Brisen und wehte und wirbelte, als wäre es lebendig und hoffte auf die Freiheit. Doch sie wachte nicht auf.
Statt dessen träumte sie, und in ihren Träumen brachte ihr Unterbewußtsein die Fragen der Furcht und des Zorns hervor, die sie in wachem Zustand nicht stellen konnte. Sie träumte von ihrer eigenen Hochzeit. Auf einem Wüstengipfel; sie stand auf der hohen Spitze eines Felsens, auf der für niemanden sonst mehr Platz war. Und doch war ihr Gatte bei ihr, trieb neben ihr in der Luft: Issib, der Krüppel, der vergnügt flog, wie sie ihn während seiner Jahre als Schüler durch die Hallen von Rasas Haus hatte fliegen sehen. In ihrem Traum schrie sie die Frage hinaus, die sie laut nicht zu stellen gewagt hatte: Warum bin ich diejenige, die den Krüppel heiraten muß? Wieso hast du mir dieses Leben zugedacht, Überseele? Wie habe ich dich beleidigt, daß ich niemals wie Luet dastehen werde, schön und jung und vor Liebe erblühend, mit einem Mann neben mir, der stark und heilig ist, fähig und gut?
In ihrem Traum sah sie, daß Issib von ihr forttrieb, noch immer lächelnd, aber sie wußte, daß dieses Lächeln lediglich seine ureigene Art von Mut war, daß ihre Schreie ihm das Herz gebrochen hatten. Sein Lächeln wurde immer schwächer; er brach in sich zusammen, stürzte wie ein Vogel, den ein grausamer Pfeil aus dem Himmel geholt hatte. Erst da begriff sie in dem Traum, daß er nur mit der Kraft seiner Liebe für sie, seiner Sehnsucht nach ihr, hatte fliegen können, und als sie vor ihm zurückgeschreckt war, hatte er seine Fähigkeit zu fliegen verloren. Sie wollte nach ihm greifen, ihn festhalten, doch dabei verlor sie lediglich den Halt auf dem Felsgipfel und fiel ihm hinterher, dem Boden entgegen.
Sie erwachte, keuchend und in der Kälte zitternd. Sie griff nach dem freien Ende des Teppichs, zog ihn über sich und hüllte sich darin ein, die Wangen kalt vor den Tränen, die dort trockneten, die Augen verquollen und wund vom Weinen. Überseele! rief sie stumm mit ganzem Herzen aus. O Mutter des Sees, sag mir, daß du mich nicht so haßt! Sag mir, daß du nicht das für mich vorgesehen hast, daß es nur ein Versehen war, das mich am Abend der Hochzeit meiner Schwester jeglicher Hoffnung beraubt hat!
Und dann, mit der perfekten Unlogik der Trauer und des Selbstmitleids, betete sie laut: »Überseele, sag mir, warum du dieses Leben für mich vorgesehen hast. Ich muß es verstehen, soll ich es leben können. Sag mir, daß es eine Bedeutung hat. Sag mir, warum ich lebe, sag mir, ob mich einer deiner Pläne so, wie ich bin, in dieses Leben gebracht hat. Sag mir, warum diese Macht des Verständnisses, die du mir verliehen hast, ein Segen und kein Fluch ist. Sag mir, ob ich jemals so glücklich sein werde, wie Luet es heute abend ist!« Und dann, voller Scham darüber, ihre Eifersucht und Sehnsucht in so nackte Worte gekleidet zu haben, weinte Huschidh wieder und schlief wieder ein.
Unter dem Teppich wurde ihr wärmer, denn die Nacht war noch nicht so kalt, wenn man bedeckt war. Ihre Tränen wurden durch Schweiß ersetzt, dessen Tropfen ihren Körper kitzelten wie winzige Hände. Und erneut träumte sie.
Sie sah sich selbst auf der Schwelle eines Wüstenzelts. Sie hatte noch nie ein aufgeschlagenes Zelt gesehen, außer in Hologrammen, und doch war dies kein Zelt, das sie auf irgendeinem Bild gesehen hatte. Dort stand sie selbst, mit einem Baby in den Armen, während vier andere Kinder, der Größe nach wie Orgelpfeifen, aus dem Zelt stürmten, und im Traum dachte sie, das Zelt habe sie gerade erst auf die Welt gebracht, als wären sie einfach in%die Welt hinausgeschleudert worden, gerade eben. Wenn es sein müßte, würde ich sie alle noch einmal empfangen und austragen und hierherbringen, nur um zu sehen, wie sie hier leben, braungebrannt und lachend im Sonnenlicht der Wüste. Die Kinder liefen im Kreis herum und verfolgten einander bei irgendeinem Spiel, während Huschidh ihnen zusah. Und dann hörte sie in ihrem Traum, wie das Kleinkind auf ihrem Arm zu quengeln begann, und so entblößte sie eine Brust und ließ das Baby saugen; sie fühlte, wie die Milch dankbar aus ihrer Warze floß, fühlte das süße Kitzeln der Lippen des Babys, die küßten und saugten und schmatzten, Leben aufnahmen, warmes Leben, nasses Leben, während ein Gemisch aus Milch und Speichel in den Mundwinkeln des Babys winzige Blasen schlug.
Dann trieb ein Stuhl durch die Zelttür, und auf dem Stuhl saß ein Mann. Issib; das wußte sie sofort. Doch es war kein Zorn in ihrem Herzen, als sie ihn sah, nicht das Gefühl, man hätte ihr etwas Gutes im Leben vorenthalten. Statt dessen sah sie sich mit ihm verbunden, von Herz zu Herz und mit dicken Stricken aus leuchtender Seide; sie nahm das Kleinkind von ihrer Brust und legte es auf Issibs Schoß, und er sprach mit dem Baby und brachte es zum Lachen, während Huschidh gemächlich ihre Brust trocknete und wieder bedeckte. Sie alle waren miteinander verbunden, Mutter, Vater, Kinder … sie sah, daß es nur darauf ankam, und nicht auf das von ihr ersonnene Ideal, wie ein Gatte auszusehen habe. Die Kinder liefen zu ihrem Vater und sprangen um seinen Stuhl herum, und er sprach mit ihnen, und sie lauschten versunken, lachten, wenn er lachte, und sangen mit ihm, wenn er sang. Dieser Issib-der-Träume war keine Last, die sie ertragen mußte, er war der beste Freund und Gatte, den sie jemals gesehen hatte.
Überseele, betete sie in ihrem Traum, wie hast du mich hierher gebracht? Warum liebst du mich so sehr, daß du mich in diese Zeit, zu diesem Ort, diesem Mann, diesen Kindern gebracht hast?
Die Antwort kam augenblicklich, mit Fäden aus Gold und Silber. Die Kinder wurden mit Huschidh und Issib verbunden, und dann erstreckten sich die Fäden von ihnen zu anderen Menschen. Ein Andrang, ein Gewimmel von Menschen, eine Milliarde, eine Billion Menschen, sie sah, wie sie zu einem unbekannten Ziel marschierten, vielleicht auf einer Völkerwanderung. Es war eine beängstigende Vision, so viele Menschen auf einmal, als sähe Huschidh jeden einzelnen Mann und jede einzelne Frau, die jemals auf Harmonie gelebt hatten. Und unter ihnen hier und da dieselben silbernen und goldenen Fäden.