Diese Vermutung Old Firehands bewegte sich auf nicht ganz falscher Fährte, denn der Apache hatte die Utahs in dem Augenblicke beobachtet, in welchem das Wettschwimmen begonnen hatte. Winnetou antwortete mit solcher Zuversicht, als ob er mit am See gestanden und alles beobachtet hätte:»Nein, man will sie nicht ertränken; aber es gilt ein Schwimmen um das Leben.«
«Hast du Grund, das zu vermuten?«
«Ja. Winnetou kennt die Gebräuche seiner roten Brüder, und Old Firehand ist mit denselben auch so gut bekannt, daß er mir beistimmen wird. Die Utahs tragen die Kriegsfarben und betrachten die bei ihnen befindlichen Weißen also als Feinde. Dieselben sollen getötet werden. Aber der rote Mann läßt seinen Feind nicht schnell sterben, sondern er martert ihn langsam zu Tode; er wirft ihn nicht in das Wasser, um ihn rasch zu ertränken, sondern er gibt ihm einen überlegenen Gegner, mit welchem er um das Leben schwimmen muß. Da der Gegner stets besser schwimmt als das Bleichgesicht, so ist der Weiße unbedingt verloren. Man läßt ihn schwimmen, nur um sein Sterben, seine Todesangst zu verlängern.«
«Das ist richtig, und ich bin also ganz deiner Ansicht. Wir haben die Spuren von erst vier und dann zwei Weißen gezählt; das sind sechs. Man wird sie nicht alle schwimmen lassen, sondern jeden auf eine andre Art um sein Leben kämpfen lassen. Wir müssen uns beeilen, sie zu retten.«
«Wenn mein weißer Bruder das thut, so wird er sich nur beeilen, selbst zu sterben.«
«Nun, das muß gewagt werden. Ich baue darauf, daß ich mich gegen die Utahs niemals feindlich gezeigt habe.«
«Darauf darfst du dich nicht verlassen. Haben sie das Kriegsbeil gegen die Weißen ausgegraben, so behandeln sie ihren besten Freund als Feind, wenn er ein Bleichgesicht ist; sie würden auch deiner nicht schonen.«
«Aber die Häuptlinge würden mich schützen!«
«Nein. Der Utah ist nicht treu und aufrichtig, und kein Häuptling dieses Volkes hat auf seine Krieger den Einfluß, welcher dich zu retten vermöchte. Wir dürfen uns nicht zeigen.«
«Aber du darfst doch zu ihnen gehen!«
«Nein, denn ich weiß nicht, ob sie das Beil nicht auch gegen andre rote Nationen geschliffen haben.«
«Dann sind diese sechs Weißen aber doch rettungslos verloren!«
«Mein Bruder mag das nicht glauben. Ich habe zwei Gründe, welche dagegen sprechen.«
«Nun, erstens?«
«Erstens habe ich bereits gesagt, daß die Gefangenen der roten Männer nur langsam sterben dürfen; es ist aber noch früh am Morgen, und wir haben also noch Zeit, das Lager zu beobachten. Vielleicht erfahren wir mehr, als wir jetzt wissen, und dann können wir leichter einen Entschluß fassen.«
«Und zweitens?«
Der Apache machte ein äußerst pfiffiges Gesicht, als er antwortete:»Es befindet sich bei den Bleichgesichtern ein Mann, welcher sich und die Seinigen nicht so leicht töten läßt.«
«Wer?«
«Old Shatterhand.«
«Was!«fuhr der Jäger auf.»Old Shatterhand, mit welchem du droben am Silbersee zusammentreffen willst? Sollte er wirklich schon hier sein?«
«Old Shatterhand ist so pünktlich wie die Sonne oder ein Stern am Himmel.«
«Hast du ihn gesehen?«
«Nein.«
«Wie willst du da behaupten, daß er sich hier befindet!«
«Ich weiß es bereits seit gestern.«
«Ohne es mir zu sagen?«
«Schweigen ist oft besser als sprechen. Hätte ich gestern gesagt, wessen Gewehr auf der Blöße gesprochen hat, so würdet Ihr nicht ruhig geblieben sein, sondern viel schneller vorwärts gedrängt haben.«
«Sein Gewehr hat gesprochen? Woher weißt du das?«
«Als wir den Waldessaum und das Gras der Lichtung absuchten, fand ich ein Bäumchen mit Kugellöchern. Die Kugeln stammen aus Old Shatterhands Wunderbüchse; ich weiß das genau. Er hat die roten Männer erschrecken wollen, und sie fürchten sich nun vor seinem Gewehre.«
«Hättest du mir das Bäumchen gezeigt! Hm! Wenn Old Shatterhand sich unter diesen Weißen befindet, so braucht uns allerdings nicht allzu bange zu sein. Ich kenne ihn; ich weiß, was er leistet, und welchen Respekt die Indianer für ihn hegen. Was sollen wir thun? Was schlägst du uns vor?«
«Meine Freunde werden mir jetzt folgen und dabei einzeln hintereinander reiten, damit die Utahs, wenn sie ja auf unsre Fährte treffen sollten, nicht zählen können, wieviel Personen wir sind. Howgh!«
Er wendete sein Pferd nach rechts und ritt weiter, ohne zu fragen, ob Old Firehand ihm beistimme, und ohne sich umzuschauen, ob man ihm folge.
Die Ufer des Baches waren, wie schon gesagt, auseinander getreten, um als erst niedriger und dann immer mehr ansteigender Höhenzug die Ebene des Sees einzusäumen. Die Ebene war baumlos, aber die Höhen standen voller Wald, welcher bis zum Fuße derselben herniederstieg und dann einen lichten Saum von Büschen bildete. Hinter diesen Büschen und unter den Bäumen Schutz und Deckung suchend, folgte Winnetou der Höhe rechts, welche die nördliche Seite der Ebene begrenzte und dann im Westen an jenen Bergstock stieß, dessen Wasser den See speiste.
Auf diese Weise umritten die Weißen die Ebene von dem östlichen bis zu dem westlichen Punkte derselben, wo sie an den Bach gelangten und, einige hundert Schritte vom See entfernt, sich unter Bäumen befanden, zwischen denen hindurch sie auf das Lager sehen konnten. Dort stiegen sie ab. Doch banden sie ihre Pferde nicht an; es behielt vielmehr ein jeder die Zügel des seinigen in der Hand, und Winnetou verschwand, um die Umgebung abzusuchen. Er kehrte sehr bald zurück und meldete, daß er nichts Verdächtiges gefunden habe. Es war kein Utah heute an diesen Ort gekommen. Nun erst band man die Pferde an und lagerte sich in das weiche Moos. Der Platz war wie dazu gemacht, das Lager heimlich und dabei mit aller Gemütlichkeit zu beobachten.
Man sah die Utahs vor demselben stehen nach Süden hin. Dann erblickte man zwei Männer, welche sich von dem Haufen trennten und aus Leibeskräften südwärts rannten. Old Firehand nahm sein Fernrohr vor das Auge, sah hindurch und rief:»Ein Wettlauf zwischen einem Roten und einem Weißen! Der Rote ist schon weit voran und wird siegen. Der Weiße ist ein sehr kleiner Kerl.«
Er gab dem Apachen das Rohr. Kaum hatte dieser den kleinen Weißen vor das Glas bekommen, so fuhr er auf:»Uff! Das ist der Hobble-Frank! Dieser kleine Held muß um sein Leben laufen und kann den Roten unmöglich überholen.«
«Der Hobble-Frank, von dem du uns erzählt hast?«fragte Old Firehand.»Wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen; wir müssen einen Entschluß fassen!«
«Jetzt noch nicht, «meinte der Apache.»Noch hat es keine Gefahr. Old Shatterhand ist ja bei ihm.«
Die Bäume standen so, daß man nicht das ganze Terrain des Wettlaufes zu übersehen vermochte. Die beiden Läufer waren rechts verschwunden; man erwartete ihre Rückkehr und war natürlich überzeugt, daß der Rote zuerst erscheinen werde. Wie erstaunte man aber, als an Stelle dessen der Kleine erschien, ganz gemächlich gehend, als ob es sich um einen Spaziergang handle.
«Der Frank zuerst!«rief Old Firehand.»Wie ist das möglich!«
«Durch List, «antwortete Winnetou.»Er hat gesiegt, und wir werden es erfahren, wie er es angefangen hat. Hört ihr, wie die Utahs zornig schreien! Sie entfernen sich; sie kehren in das Lager zurück. Und seht, dort stehen vier Bleichgesichter; ich kenne sie.«
«Ich auch, «rief Droll.»Old Shatterhand, der lange Davy, der dicke Jemmy und dieser kleine Hobble-Frank.«
Diese Namen erregten allgemeines Aufsehen. Einige kannten einen oder mehrere der Genannten persönlich; die andern hatten genugsam von ihnen gehört, um ihnen das größte Interesse zu widmen. Die Bemerkungen flogen hin und her, bis Winnetou zu Old Firehand sagte:»Sieht mein Bruder jetzt, daß ich recht hatte? Unsre Freunde haben ihre Waffen noch; es kann also nicht gefährlich um sie stehen.«