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Auch ihr Vater wußte bestimmt nicht mehr. Stefan interessierte sich offenbar nur für das Mädchen, nicht für den Vater, so daß er wohl auch Bob Shane nicht über seine Herkunft oder Absichten informiert hatte.

Kokoschka fuhr schließlich einige Straßen weiter zu einem Restaurant, aß zu Abend und kehrte später zu dem Laden zurück. Er parkte in einer Seitenstraße unter den weit ausladenden Wedeln einer Dattelpalme. Im Laden war es dunkel, aber in der Wohnung im ersten Stock brannte Licht.

Aus der tiefen Tasche seines Regenmantels zog er einen Revolver: einen kurzläufigen Colt Agent Kaliber 38 - klein und handlich, aber wirkungsvoll. Kokoschka bewunderte präzise konstruierte und gefertigte Waffen; vor allem diese gab ihm das Gefühl, den Tod in Stahl gefangen in der Hand zu halten.

Kokoschka konnte die Telefonleitung der Shanes kappen, sich heimlich Zutritt zu der Wohnung verschaffen, Vater und Tochter erschießen und verschwinden, bevor die von Nachbarn alarmierte Polizei eintraf. Nach seinen Talenten und Neigungen war er für einen Job dieser Art qualifiziert.

Ermordete er sie jedoch, ohne zu wissen, warum er sie erschoß, und ohne zu verstehen, welche Rolle sie in Stefans Plänen spielten, könnte sich später vielleicht herausstellen, daß es ein Fehler gewesen war, sie zu liquidieren. Bevor er handelte, mußte er Stefans Absichten kennen.

Kokoschka steckte den Revolver widerstrebend ein.

3

In der windstillen Nacht fielen die Regentropfen senkrecht auf die Großstadt herab, als wäre jeder einzelne unnatürlich schwer. Sie prasselten lärmend auf Dach und Windschutzscheibe des kleinen Autos.

Um ein Uhr morgens in dieser Dienstagnacht Ende März waren auf den nassen, an einigen Kreuzungen vom Regenwasser überfluteten Straßen nur vereinzelte Militärfahrzeuge unterwegs. Auf der Fahrt zum Institut machte Stefan Umwege, um bekannten Kontrollstellen auszuweichen, fürchtete aber, auf einen zusätzlich errichteten Kontrollpunkt zu treffen. Seine Papiere waren in Ordnung, sein Dienstausweis befreite ihn von der neuen Ausgangssperre. Trotzdem legte er keinen Wert darauf, kontrolliert zu werden. Er durfte nicht riskieren, daß sein Wagen durchsucht wurde, denn der Koffer auf dem Rücksitz enthielt Kupferdraht, Zündkapseln und Plastiksprengstoff, den er nicht legal in seinem Besitz haben durfte.

Weil die Windschutzscheibe von seinem Atem beschlagen war, der Regen die unheimlich dunkle Stadt noch dunkler machte, die Scheibenwischer abgenützt waren und die Tarnscheinwerfer sein Blickfeld einengten, hätte er die enge Gasse zum Hintereingang des Instituts beinahe verfehlt. Er bremste und riß das Lenkrad herum. Auf den nassen Pflastersteinen brach das Heck des PKWs leicht aus, als er mit quietschenden Reifen polternd die Kurve nahm.

Er parkte im Dunkel in der Nähe des Hintereingangs, stieg aus und nahm den Koffer vom Rücksitz. Das Institut war ein schmuckloser dreistöckiger Klinkerbau mit massiv vergitterten Fenstern. Das Gebäude wirkte bedrohlich, aber nicht wie eines, das Geheimnisse enthielt, die den Lauf der Weltgeschichte verändern sollten. Die schwarze Stahltür hatte verdeckte Angeln und ließ sich nur von innen öffnen. Er drückte auf den Knopf, hörte den Summer ertönen und wartete nervös darauf, daß ihm geöffnet würde.

Er trug Gummiüberschuhe und einen Trenchcoat mit hochgeklapptem Kragen, aber er hatte weder Hut noch Schirm. Der kalte Regen ließ seine Haare am Schädel kleben und lief ihm hinten ins Genick.

Vor Kälte zitternd betrachtete er den Fensterschlitz neben der Tür: 15 Zentimeter breit, einen halben Meter hoch und mit einer nur von innen durchsichtigen Scheibe aus außenverspiegeltem Panzerglas.

Über der Tür flammte eine Lampe auf. Der konische Schirm bündelte ihr gelbliches Licht und richtete es genau auf den im Regen Wartenden.

Stefan lächelte dem verspiegelten Sehschlitz zu, hinter dem der Wachmann stand, den er nicht sehen konnte.

Das Licht erlosch, die Stahlriegel wurden klappernd zurückgezogen, und die Tür ging nach innen auf. Er kannte den Wachmann: Viktor Soundso, ein stämmiger Mittfünfziger mit Nickelbrille und kurzgeschorenem grauen Haar, der keineswegs so grimmig war, wie er aussah, sondern sich im Gegenteil gluckenhaft Sorgen um die Gesundheit von Freunden und Bekannten machte.

»Mensch, was tun Sie um diese Zeit hier - bei diesem Scheißwetter?«

»Ich hab’ nicht schlafen können.«

»Verdammter Regen. Kommen Sie rein! Sie werden sich noch erkälten.«

»Mir ist Arbeit liegengeblieben. Das hat mir keine Ruhe gelassen, deshalb habe ich beschlossen, herzukommen und sie zu erledigen.«

»Das ist der Weg zu einem frühen Grab, wetten?«

Während Stefan den Vorraum betrat und zusah, wie der Wachmann die Stahltür schloß, versuchte er sich an irgendeine Kleinigkeit aus Viktors Privatleben zu erinnern. »Wie Sie aussehen, Viktor, macht Ihre Frau noch immer die fabelhaften Nudelaufläufe, von denen Sie mir erzählt haben?«

Viktor wandte sich von der Tür ab, lachte leise und tätschelte seinen Schmerbauch. »Ich könnte schwören, daß der Teufel sich mit ihr verbündet hat, um mich zur Sünde der Völlerei zu verführen. Was haben Sie da für einen Koffer? Ziehen Sie bei uns ein?«

Stefan wischte sich mit der freien Hand über sein regennasses Gesicht. »Unterlagen«, antwortete er knapp. »Ich habe sie zu Hause durchgearbeitet.«

»Haben Sie denn gar kein Privatleben?«

»O ja. Jeden zweiten Dienstag zwanzig Minuten.«

Viktor schüttelte mißbilligend den Kopf. Er trat an den Schreibtisch, der ein Drittel des kleinen Vorraums einnahm, griff nach dem Telefonhörer und rief den zweiten Wachmann an, der seinen Posten am Haupteingang des Institutsgebäudes in einem ähnlichen Raum hatte. Würde jemand nach Dienst eingelassen, verständigte der jeweilige Wachmann seinen Kollegen am anderen Ende, damit kein falscher Alarm gegeben und nicht etwa ein harmloser Besucher versehentlich erschossen wurde.

Stefan, von dessen Trenchcoat Wasser auf den abgetretenen Teppich tropfte, trat an die innere Tür und holte seinen Schlüssel aus der Manteltasche. Auch diese Tür bestand aus Stahl und hatte verdeckte Angeln. Sie ließ sich jedoch nur öffnen, wenn zwei Schlüssel gleichzeitig gedreht wurden - der eines Institutsmitarbeiters und der des jeweiligen Wachmanns. Die Forschungsprojekte, an denen hier gearbeitet wurde, waren so geheim, daß selbst das Wachpersonal keinen Zugang zu den Labors und Archiven hatte.

Viktor legte den Hörer auf. »Wie lange bleiben Sie?«

»Ein paar Stunden. Arbeitet heute nacht sonst noch jemand?«

»Nein. Sie sind der einzige Märtyrer. Und Märtyrer mag keiner. Eines Tages arbeiten Sie sich zu Tode - und wofür? Das Vaterland wird’s Ihnen auch nicht danken.«

»Heilige und Märtyrer herrschen aus dem Grab, hat ein Dichter geschrieben.«

»Heilige und Märtyrer herrschen aus dem Grab? Klingt nicht nach einem Dichter. Eher nach staatsfeindlicher Parole.« Viktor lachte. Offenbar amüsierte ihn die Vorstellung, sein fleißiger Kollege könnte ein Verräter sein.

Sie sperrten gemeinsam die innere Tür auf.

Stefan wuchtete den Sprengstoffkoffer in den Erdgeschoßkorridor des Instituts und machte dort Licht.

»Wenn Sie sich die Nachtarbeit zur Gewohnheit machen wollen«, sagte Viktor, »bringe ich Ihnen das nächste Mal einen Kuchen meiner Frau mit, damit Sie bei Kräften bleiben.«

»Danke, Viktor, aber ich hoffe, daß es nicht zur Gewohnheit wird.«

Der Wachmann schloß die Stahltür, deren Riegel automatisch einschnappten.

Als Stefan im Korridor allein war, überlegte er nicht zum ersten Mal, daß er mit seinem Aussehen Glück hatte: blond, blauäugig, energische Gesichtszüge. Seine Erscheinung trug mit dazu bei, daß er ganz frech Sprengstoff ins Institut schaffen konnte, ohne mit einer Durchsuchung seines Gepäcks rechnen zu müssen. Es war nichts Finsteres, Verschlagenes oder Verdächtiges an ihm, er entsprach dem gängigen Ideal. Seine Loyalität stand für Männer wie Viktor außer Zweifel - Männer, deren blinde Staatstreue und bierseliger, sentimentaler Patriotismus sie daran hinderte, über alle möglichen Dinge nachzudenken. Und es gab genug Dinge, über die man hätte nachdenken können.