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»Und die Quinn-Visionen? Sind das auch Phantome aus irgendeiner anderen Zeitlinie? Habe ich mitgeholfen, ein Ungeheuer auf dieses Land loszulassen, oder leide ich nur an schlechten Träumen?«

»Diese Frage kann ich nicht für Sie beantworten. Sie müssen abwarten, Sie müssen lernen, ihre visionäre Sicht zu verfeinern, und dann wieder hinsehen und abwägen.«

»Sie können mir keine präziseren Ratschläge geben?«

»Nein«, sagte er. »Es ist nicht möglich, eine…«

Die Türglocke läutete.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Carvajal.

Er verließ das Zimmer. Ich schloß die Augen und ließ die Brandung eines unbekannten tropischen Meeres meinen Geist durchspülen, in ein warmes salziges Bad tauchen, das alle Erinnerung und allen Schmerz auslöschte und die zerkratzten Stellen glättete. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erschienen mir nun als gleichermaßen unwirklich: Nebelfetzen, Inseln verschwommenen, zarten Lichts, fernes Lachen, belegte Stimmen, die in fragmentarischen Sätzen reden. Irgendwo wurde ein Stück gespielt, aber ich war nicht mehr auf der Bühne und war nicht im Publikum. Die Zeit war ausgesetzt. Vielleicht begann ich schließlich zu sehen. Ich glaube, Quinns ernste, derbe Züge schwebten vor mir, in schreiend grünes und blaues Scheinwerferlicht getaucht, und vielleicht habe ich den alten Mann im Krankenhaus gesehen und die Soldaten auf der Straße; und ich erspähte Welten hinter Welten, ungeborene Reiche, den Tanz der Kontinente, die trägen Kreaturen, die am Ende aller Tage über den großen Eisschild kriechen, der die Erde gürtet. Dann hörte ich Stimmen vom Gang, ein Mann brüllte, Carvajal erklärte geduldig, verneinte. Etwas mit Drogen, wütende Anklagen, Forderungen. Was? Was? Ich kämpfte mich aus dem Nebel, der mich umfangen hielt. Da war Carvajal, an der Tür, ihm gegenüber ein untersetzter Mann mit Sommersprossen im Gesicht, mit gehetzten blauen Augen und ungekämmtem, flammend rotem Haar. Der Fremde hielt eine Pistole in der Hand, eine altmodisch-plumpe, eine blauschwarze Kanone von einer Pistole, mit der er aufgeregt durch die Luft fuchtelte. Die Lieferung, schrie er immer wieder, wo ist die Lieferung, was geht hier vor? Und Carvajal zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf und sagte sanft, wieder und immer wieder: »Das ist ein Irrtum, das ist einfach eine Verwechslung.« Carvajal leuchtete. Es war, als sei sein ganzes Leben auf diesen einen Augenblick zu gehämmert und geschmiedet worden, auf diesen Augenblick der Gnade, diese Epiphanie, diesen verwirrten und komischen Dialog im Türrahmen.

Ich trat vor, bereit, meine Rolle zu spielen. Ich entwarf Sätze für mich. Ich würde sagen: Ruhe, Junge, hör auf, mit der Pistole herumzufuchteln. Du hast die falsche Adresse. Wir haben hier keine Drogen. Ich sah mich selbst zuversichtlich auf den Eindringling zugehen, immer noch redend. Beruhige dich, steck das Ding weg, ruf den Boß an und kläre die Angelegenheit. Sonst kommst du in ernste Schwierigkeiten, und-. Weiter reden, ruhig nach seiner Pistole greifen, sie aus seiner Hand winden, ihn an die Wand drücken…

Das falsche Drehbuch. Das richtige Drehbuch verlangte von mir, nichts zu tun. Das wußte ich. Ich tat nichts.

Der Mann mit der Pistole blickte zu mir, zu Carvajal, wieder zu mir. Er hatte nicht erwartet, mich aus dem Wohnzimmer kommen zu sehen, und er wußte nicht, wie er reagieren sollte. Dann klopfte es an der Wohnungstür. Von draußen fragte die Stimme eines Mannes Carvajal, ob hier drinnen alles in Ordnung sei. Die Augen des Gangsters blitzten vor Angst und Verwirrung. Er wich zurück von Carvajal. Ein Schuß fiel — fast noch am Rande, beiläufig. Carvajal schwankte, aber hielt sich noch aufrecht an der Wand. Der Gangster preschte an mir vorüber ins Wohnzimmer. Blieb dort stehen, zitternd, vornübergebeugt. Er feuerte noch einmal. Ein drittes Mal. Sprang dann plötzlich zum Fenster. Das Geräusch zersplitternden Glases. Bis jetzt war ich gelähmt auf dem Fleck gestanden, aber nun endlich rührte ich mich. Zu spät; der Eindringling war schon durch das Fenster, Die Feuerleiter hinunter, in der Straße verschwunden.

Ich wandte mich nach Carvajal um. Er war zu Boden gefallen und lag nahe dem Eingang zum Wohnzimmer, reglos, schweigend, mit offenen Augen; er atmete noch. Sein Hemd war vorne blutbefleckt; ein zweiter Blutfleck breitete sich auf seinem linken Arm aus; eine dritte Wunde, klein und merkwürdig präzise gezeichnet, war in der Seite seines Kopfes, gerade über dem Backenknochen. Ich rannte zu ihm und hielt ihn und sah, wie seine Augen glasig wurden, und es schien mir, als lachte er am Ende, ein kleines, weiches Glucksen — aber das ist vielleicht meine eigene Drehbucherfindung, eine hübsche kleine Regieanweisung. Also. Also! — Endlich abgetan. Wie ruhig er gewesen war, wie ergeben, wie froh, es hinter sich zu haben. Die so lange geprobte Szene, nun endlich gespielt.

44

Carvajal starb am 22. April 2000. Dies schreibe ich Anfang Dezember, der eigentliche Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts und des neuen Jahrtausends ist nur noch wenige Wochen entfernt. Das neue Jahrtausend wird mich hier in diesem schlichten Haus im Norden von New Jersey finden, in dem ich die kaum erst in Gang gekommenen Aktivitäten des Zentrums für Stochastische Prozesse leite. Seit August sind wir hier, nachdem Carvajals rechtswirksam bestätigtes Testament mich zum alleinigen Erben seiner Millionen gemacht hatte.

Hier im Zentrum kümmern wir uns natürlich nicht viel um Stochastische Prozesse. Der Name der Institution täuscht; wir sind hier nicht stochastisch, sondern vielmehr post-stochastisch; jenseits der Manipulation von Wahrscheinlichkeiten dringen wir ein ins Reich der Gewißheit, des zweiten Gesichts. Aber ich hielt es für ratsam, das nicht zu offen auszusprechen. Was wir hier tun, ist mehr oder weniger eine bestimmte Art von Zauberei; und eine der großen Lehren aus dem so gut wie abgeschlossenen zwanzigsten Jahrhundert ist die: Wenn man Zauberei praktizieren will, tut man es besser unter einem anderen Namen. Stochastisch hat einen angenehmen, pseudowissenschaftlichen Klang, und so, wie das Wort Bilder von ganzen Kompanien blasser junger Forscher heraufbeschwört, die riesige Computer mit Daten füttern, ist es als Deckname wunderbar geeignet.

Bis jetzt sind wir vier. Es werden mehr werden. Der Aufbau hier geht Schritt für Schritt vonstatten, wir hasten nicht. Ich finde neue Anhänger jeweils, wenn ich sie brauche. Den Namen des nächsten kenne ich schon, ich weiß, wie ich ihn überreden werde, zu uns zu kommen, und im richtigen Moment wird er da sein, so wie die ersten drei da waren. Vor sechs Monaten waren sie noch Fremde für mich; heute sind sie meine Brüder.

Wir erbauen hier eine Gesellschaft, einen Orden, eine Priesterschaft, wenn Sie so wollen, einen Trupp von Sehern. Wir weiten unsere visionären Fähigkeiten aus und verfeinern sie, eliminieren Zweideutigkeiten, schärfen die Wahrnehmung. Carvajal hatte recht: Jeder hat die Gabe. In jedem kann sie erweckt werden. In Ihnen. In Ihnen. Und so werden wir denn hinausgehen, jeder von uns wird einem anderen seine Hand bieten. In aller Stille werden wir das post-stochastische Evangelium verbreiten, in aller Stille die Zahl derer vervielfachen, die sehen. Es wird langsam gehen. Es wird Gefahren geben, Verfolgungen. Schwere Zeiten kommen, nicht nur für uns. Wir müssen immer noch die Ära Quinn durchstehen, eine Ära, die mir so vertraut ist wie nur irgendeine aus der Geschichte, obwohl sie noch gar nicht begonnen hat: Die Wahl, die ihn zum Präsidenten machen wird, ist erst in vier Jahren. Aber ich sehe darüber hinaus: die Umwälzungen, die folgen werden, den Aufruhr, den Schmerz. Sorgen Sie sich deswegen nicht. Wir werden das Quinn-Regime überdauern, so wie wir Assurbanipal, Attila, Dschingis-Khan, Napoleon überdauert haben. Schon teilen sich die Wolken, und hinter der kommenden Dunkelheit sehen wir die Zeit der Heilung.

Wir erbauen hier eine Gemeinschaft, die sich der Abschaffung der Ungewißheit verschrieben hat, der absoluten Beseitigung des Zweifels. Letztendlich werden wir die Menschheit in ein Universum führen, in dem nichts zufällig, nichts unbekannt, in dem auf jeder Ebene alles vorhersagbar ist, vom Mikrokosmos bis zum Makrokosmos, von den Zuckungen eines Elektrons zum Kreisen der Galaxien. Wir werden der Menschheit beibringen, den süßen Komfort des Vorbestimmten zu kosten. Und so werden wir werden wie die Götter.