Simon griff nach der Autotür, und Nestor rutschte automatisch zur Seite, um ihm mehr Platz zu machen. Er konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen, damit seine Wut seine Stimme nicht zu sehr zittern ließ: »Reden Sie nur weiter, Nestor. Geben Sie mir endlich einen Grund, Sie festzunehmen.«
Nestor zog die Augenbrauen hoch: »Wieso das denn, Herr Hauptkommissar?«
»Versuchte Bestechung eines Polizeibeamten.«
»Bestechung?« Nestor lachte kurz und wiehernd. »Nennen wir es ein Geschäft. Sie werden sehen, dass …«
Simon bekam den Rest nicht mit, da die Limousine allem Anschein nach in alle Richtungen gut geräuschisoliert war. Er ging, ohne sich noch einmal umzublicken, und wünschte sich, er hätte die Tür noch fester zugeknallt. Der Motor wurde gestartet, und Reifen rollten über Asphalt.
»Hast du dich aufgeregt, Liebling?«, fragte Else, als er sich an den Küchentisch setzte, auf dem bereits die Kaffeetassen standen. »Was war denn los?«
»Ach, da hatte sich nur einer verfahren«, sagte Simon. »Ich habe ihm den Weg beschrieben.«
Else kam mit der Kaffeekanne. Simon starrte aus dem Fenster. Die Straße war leer. Im selben Moment spürte er einen brennenden Schmerz auf den Oberschenkeln.
»He! Heiß!«
Er schlug ihr die Kaffeekanne aus den Händen, so dass sie polternd über den Boden rutschte, und schrie sie an: »Pass doch auf, du gießt mir den Kaffee auf die Beine! Bist du denn …« Ein Teil seines Hirns hatte bereits reagiert und versuchte das Wort zurückzuhalten, aber es war wie mit der Tür dieses Wagens, er wollte nicht, er weigerte sich, wollte alles kaputtmachen, lieber ein Messer in sich rammen. Und in sie.
»… blind?«
Es wurde still in der Küche, nur der Deckel der Kanne rollte irgendwohin, und der auslaufende Kaffee gluckerte. Nein! Genau das wollte er nicht. Das nicht.
»Entschuldige, Else, ich …«
Er stand auf, um sie zu umarmen, aber sie war bereits auf dem Weg zum Waschbecken. Drehte den kalten Hahn auf und hielt ein Handtuch darunter. »Zieh die Hose aus Simon, ich muss …«
Er umarmte sie von hinten. Legte die Stirn an ihren Hinterkopf. Flüsterte: »Entschuldige, entschuldige. Bitte, kannst du mir verzeihen? Ich … ich weiß einfach nur nicht, was ich tun soll. Ich würde so gern etwas für dich tun, aber ich … ich schaffe es einfach nicht, ich … weiß nicht, wie …«
Er hörte ihr Weinen nicht, spürte aber, dass sich das Zittern ihres Körpers auf den seinen übertrug. Und dass sich sein Hals zuschnürte. Ob er selbst weinte, konnte er nicht sagen, dafür zitterten sie beide viel zu stark.
»Ich muss mich entschuldigen«, schluchzte sie. »Du hättest jemand Besseren verdient, nicht so eine wie mich, die … die dich verbrüht.«
»Es gibt keine Bessere«, flüsterte er. »Und es ist in Ordnung, es ist gut so, du darfst mich so oft verbrühen, wie du willst, ich lasse dich nicht los, okay?«
Er spürte, wie wahr jedes seiner Worte war. Er würde alles tun, alles ertragen, alles opfern.
Damit es meine Ohren erreicht …
Nur dass er es nicht getan hatte.
Draußen hörte er das ekstatische Lachen des Nachbarn, während ihr die Tränen still über die Wangen liefen.
Kalle sah auf die Uhr. Zehn nach halb elf. Es war ein guter Tag gewesen. Sie hatten mehr Superboy verkauft als sonst an einem ganzen Wochenende, entsprechend hatten das Zählen und die Vorbereitung der neuen Tütchen länger als sonst gedauert. Er nahm die Mundbinde ab, die sie trugen, wenn sie den Stoff feinhackten und streckten. Diese Arbeit machten sie an dem Tisch in dem einfachen, zwanzig Quadratmeter großen Raum, der Büro, Drogenfabrik und Bank in einem war. Der Stoff war zwar schon gestreckt, wenn er ihn bekam, aber Superboy war trotzdem das Reinste, das er in seiner Karriere als Dealer jemals in den Händen gehabt hatte. So rein, dass sie ohne Mundschutz nicht nur high werden, sondern das Zeitliche segnen würden, wenn sie die Partikel einatmeten, die beim Hantieren mit dem braun-weißen Pulver aufwirbelten. Er legte den Mundschutz in den Safe vor die Geldbündel und Drogentütchen. Sollte er Vera anrufen, weil er sich verspäten würde? Oder war es an der Zeit, ihr mal klarzumachen, wer hier der Chef war und das Geld nach Hause brachte? Er konnte sich doch nicht jedes Mal rechtfertigen?
Kalle bat Pelvis, den Flur zu überprüfen.
Von der Stahltür des Büros bis zu dem Fahrstuhl auf der rechten Seite waren es nur zwei oder drei Meter. Am Ende des Flurs war eine Tür, die in ein Treppenhaus führte, aber diese Tür hatten sie – ganz entgegen der Brandschutzverordnung – mit einer Kette gesichert.
»Cassius, check the parking place!« Kalle verschloss den Safe. Obwohl der Raum, in den nur die Geräusche der unten liegenden Probenräume aufstiegen, klein war, liebte er es, laut zu rufen. Cassius war der größte und fetteste Afrikaner in der ganzen Stadt. Sein Körper war derart ausladend, dass man nicht immer wusste, was was war. Aber auch wenn nur zehn Prozent dieses Kolosses aus Muskeln bestanden, reichten die, um aufzuhalten, was auch immer sich ihnen in den Weg stellte.
»No cars, no people at the parking place.« Cassius schaute durch das vergitterte Fenster nach draußen.
»Die Luft ist rein.« Pelvis schaute durch die Luke der Tür.
Kalle verstellte das Rädchen mit der Kombination. Er liebte den glatten, geölten Widerstand und das sanfte Klicken. Er hatte die Kombination im Kopf und nur dort. Sie war nirgends notiert und folgte auch keiner Logik, war keine Kombination von Geburtsdaten oder irgendein anderer Unsinn.
»Dann gehen wir«, sagte er und richtete sich auf. »Have your gun ready, both of you.«
Sie sahen ihn fragend an.
Kalle gingen die Augen, die durch die Luke gestarrt hatten, irgendwie nicht aus dem Kopf. Der Typ hatte ihn am Tisch sitzen gesehen. Okay, vielleicht war es wirklich nur irgendein schlechter Musiker, der von Management träumte, aber die Drogen und das Geld, das auf dem Tisch gelegen hatten, konnten jemanden schwach werden lassen. Hoffentlich hatte der Typ auch die beiden Pistolen auf dem Tisch bemerkt, die Cassius und Pelvis gehörten. Kalle ging zur Tür. Das Schloss konnte nur mit seinem Schlüssel geöffnet werden, auch von innen. Kalle schloss die Leute im Raum also ein, wenn er selbst mal rausmusste. Auch die Gitter vor den Fenstern ließen sich nicht öffnen. Kurz gesagt, niemand, der für Kalle arbeitete, konnte mit Geld oder Drogen einfach so abhauen. Oder ungebetene Gäste reinlassen.
Kalle blickte durch die Luke. Nicht weil er sich nicht daran erinnerte, dass Pelvis gerade gesagt hatte, die Luft sei rein, sondern weil er damit rechnete, dass Pelvis seinen Chef hintergehen würde, wenn ihm dafür jemand genug bezahlte. Aber verflucht, Kalle hätte das Gleiche getan. Hatte das Gleiche getan.
Vor der Tür war niemand zu sehen. Er überprüfte den Spiegel, den er an der Wand gegenüber angebracht hatte, damit sich keiner direkt unter der Luke der Tür verstecken konnte. Der nur schwach beleuchtete Flur war leer. Er drehte den Schlüssel herum und hielt den beiden anderen die Tür auf. Pelvis ging als Erster nach draußen, danach Cassius und dann er selbst. Er drehte sich um, um die Tür zu verriegeln.
»Was zum …«, sagte Pelvis.
Kalle drehte sich um und bemerkte erst jetzt, was er durch die Luke nicht hatte sehen können: Die Fahrstuhltür stand offen. Da kein Licht im Aufzug war, konnte er allerdings nicht erkennen, ob dort jemand stand. Nur etwas Weißes am Rand der Fahrstuhltür fiel ihm auf. Die Lichtschranke des Fahrstuhls war mit Gaffatape verklebt worden, und auf dem Boden lagen Glassplitter.
»Vorsicht …«
Aber Pelvis war bereits die drei Schritte zum Fahrstuhl vorgetreten.
Kalles Hirn nahm das Mündungsfeuer im Aufzug wahr, bevor er den Knall hörte.
Pelvis’ Kopf schlug zur Seite, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige gegeben. Er starrte Kalle mit überraschtem Gesichtsausdruck an. Es sah aus, als hätte er im Wangenknochen ein drittes Auge. Dann verließ ihn das Leben, und sein Körper fiel in sich zusammen, als hätte sein Besitzer ihn achtlos fallen gelassen.