Eine kühle Böe ließ Martha schaudern. Sie richtete sich auf und schlang die Arme um die Knie.
»Eines Tages ist sie dann nicht nach unten zum Frühstück gekommen. Sie fanden sie auf dem Dachboden. Sie hatte sich an dem dicken Dachbalken erhängt. Angeblich sieht man noch heute den hellen Streifen von dem Strick im Holz.«
»Und jetzt spukt sie da oben?«
»Keine Ahnung, ich weiß nur, dass man sich da oben echt kaum aufhalten kann. Eigentlich glaube ich nicht an Gespenster, aber da oben hält es wirklich niemand länger aus. Irgendwie hat man den Eindruck, all das Böse zu spüren. Jeder bekommt Kopfschmerzen und fühlt sich bedrückt. Dabei werden oft neue Mitarbeiter oder Externe auf den Dachboden geschickt, die kennen die Geschichte gar nicht. Und nein, es gibt kein Asbest in den Isolierungen …«
Sie musterte ihn. Aber er wirkte weder skeptisch, noch hatte er die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. Er hörte einfach nur zu.
»Aber das ist noch nicht alles«, sagte sie. »Das Kind.«
»Ja«, sagte er.
»Ja? Hast du eine Idee?«
»Es war weg.«
Sie sah ihn überrascht an. »Wie kommst du darauf?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich sollte doch raten.«
»Einige dachten, die Mutter habe es in der Nacht, in der sie sich erhängte, den Widerstandskämpfern anvertraut. Andere glaubten, sie hätte das Kind umgebracht und im Hinterhof verscharrt, damit es ihr niemand wegnehmen könnte. Aber wie dem auch sei …« Martha holte tief Luft. »Es wurde nie gefunden. Das Seltsame ist nur, dass wir manchmal über unsere Walkie-Talkies Geräusche empfangen, von denen wir nicht wissen, wo sie herkommen. Aber was es ist, hört man sofort …«
Er sah aus, als wüsste er auch jetzt bereits alles.
»Kinderweinen«, sagte sie.
»Kinderweinen«, wiederholte er.
»Viele kriegen es mit der Angst, wenn sie das hören. Was ja auch kein Wunder ist. Grete versucht dann immer, alle zu beruhigen. Sie meint, das wäre nichts Besonderes, die Walkie-Talkies sollen angeblich auch die Signale der Babyphone in der Nachbarschaft empfangen können.«
»Aber du glaubst das nicht?«
Martha zuckte mit den Schultern. »Stimmen kann es schon.«
»Aber?«
Wieder eine Böe. Im Westen waren dunkle Wolken aufgezogen. Martha ärgerte sich, dass sie keine Jacke mitgenommen hatte.
»Aber ich arbeite jetzt seit sieben Jahren im Ila. Und … ich meine, was du da eben über Stimmen gesagt hast … dass die sich nicht verändern …«
»Ja?«
»Ich könnte schwören, dass das immer derselbe Säugling ist.«
Stig nickte. Sagte nichts, bot keine andere Lösung an, brachte keinen Kommentar, sondern nickte einfach nur. Sie war beeindruckt.
»Weißt du, was diese Wolken bedeuten?«, sagte er schließlich und stand auf.
»Dass Regen kommt und wir gehen sollten?«
»Nein«, sagte er. »Dass wir uns beeilen müssen, wenn wir noch baden und uns von der Sonne trocknen lassen wollen.«
»Compassion fatigue«, sagte Martha. Sie lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel, schmeckte noch das Salz im Mund und spürte durch die nasse Unterwäsche den warmen Felsen. »Das bedeutet, dass ich die Fähigkeit zum Mitgefühl verloren habe. Im Wohlfahrtsstaat Norwegen ist das derart unvorstellbar, dass der Name des Syndroms gar nicht erst übersetzt worden ist.«
Er antwortete nicht. Und das war okay, denn im Grunde sprach sie ja auch gar nicht mit ihm. Er war nur der Vorwand, um laut denken zu können.
»Ich denke, das ist eine Art Selbstschutz, dass sich da etwas abschaltet, bevor es zu viel wird. Vielleicht ist die Quelle aber auch einfach versiegt, vielleicht habe ich keine Liebe mehr in mir.« Sie dachte nach. »Doch, das habe ich. Ich habe viel … nur nicht …«
Martha sah Großbritannien am Himmel heransegeln und sich in ein Mammut verwandeln. Irgendwie war es fast so, wie auf dem Sofa ihres Psychologen zu liegen, der tatsächlich noch ein Sofa hatte.
»Anders war der hübscheste und klügste Junge in der Schule«, sagte sie zu den Wolken. »Der Kapitän der Fußballmannschaft. Frag nicht, ob er Schulsprecher war.«
Sie wartete.
»War er?«
»Ja.«
Sie lachten gleichzeitig.
»Warst du in ihn verliebt?«
»Sehr. Und das bin ich noch. Er ist ein guter Junge. Nicht nur hübsch und klug. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, Anders zu haben. Und was ist mit dir?«
»Was soll mit mir sein?«
»Hast du Freundinnen gehabt?«
»Nein.«
»Nein?« Sie stemmte sich auf die Ellenbogen hoch. »So ein Charmeur wie du? Das glaube ich dir nicht.«
Stig hatte sein T-Shirt ausgezogen. Seine Haut war so hell, dass sie sie in der Sonne fast blendete. Sie war erstaunt, keine frischen Einstiche zu sehen. Vielleicht setzte er sich seine Schüsse in die Schenkel oder Leiste.
»Komm schon«, sagte sie.
»Ich habe schon mal ein Mädchen geküsst …« Er strich sich mit der Hand über die alten Einstiche. »Aber die Einzige, die ich wirklich geliebt habe …«
Marthas Blick klebte noch immer an den Einstichen. Auch sie hätte gern ihre Finger daraufgelegt, sie weggestreichelt.
»Du hast bei unserem Aufnahmegespräch gesagt, dass du aufgehört hast«, sagte sie. »Ich werde Grete nichts sagen. Vorerst nicht. Aber du weißt …«
»… dass bei euch nur Leute wohnen, die wirklich Drogen nehmen.«
Sie nickte. »Was meinst du, wirst du das schaffen?«
»Den Führerschein?«
Sie lächelten sich an.
»Heute schaffe ich es«, sagte er. »Und morgen ist ein neuer Tag.«
Die Wolken waren noch weit entfernt, aber das ferne Donnern verriet ihnen, was kommen würde. Und auch die Sonne schien das zu wissen und aus Trotz etwas heftiger zu brennen.
»Gib mir dein Telefon«, sagte sie.
Martha drückte auf Aufnahme. Dann sang sie das Lied, das ihr Vater immer ihrer Mutter auf der Gitarre vorgespielt hatte, wenn wieder eines ihrer ewig langen Sommerfeste dem Ende entgegenging. Er hatte genau an diesem Ort gesessen, die alte Gitarre in den Händen, und so langsam gespielt, dass das Lied beinahe ins Stocken kam. Der Leonard-Cohen-Song, in dem es heißt, dass er immer ihr Lover sein und sie auf ihrer Reise blind begleiten wird. Und dass er weiß, dass sie ihm vertraut, weil er ihren perfekten Körper mit seiner Seele berührt hat.
Sie sang die Zeilen mit leiser, dünner Stimme. Ihre Stimme klang immer so viel schwächer und verwundbarer, wenn sie sang. Deshalb dachte sie manchmal, dass sie in Wirklichkeit schwach war und dass sie sich die andere, die raue Stimme nur antrainiert hatte, um sich selbst zu schützen.
»Danke«, sagte er, als sie fertig war. »Das war wunderschön.«
Sie wunderte sich nicht, warum es peinlich war. Sie wunderte sich, warum es nicht peinlich war.
»Ich glaube, wir sollten langsam zurückfahren«, sagte sie lächelnd und reichte ihm das Telefon.
Sie hätte wissen müssen, dass sie das Schicksal böse herausforderte, als sie begann, das alte, morsche Verdeck nach unten zu klappen, aber sie wollte die frische Luft in den Haaren spüren. Sie brauchten mehr als eine Viertelstunde harter Arbeit, praktischen Denkens und roher Gewalt, bis es endlich unten war. Und ihr war bewusst, dass sie es ohne neue Teile und Anders’ Hilfe nicht wieder schließen konnte.
Als sie sich ins Auto setzte, zeigte Stig ihr sein Telefon. Er hatte Berlin ins Navi eingegeben.
»Dein Vater hatte recht«, sagte er. »Von Lilleberlin bis ins richtige Berlin sind es tausenddreißig Kilometer. Geschätzte Fahrzeit zwölf Stunden und einundfünfzig Minuten.«