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Nächste Tür, nächster Sensor. Franck legte den Zeigefinger darauf. Er liebte diese Erfindung, eine Kopie aus dem Obihiro-Gefängnis in Kushiro, Japan. Statt Schlüssel auszuteilen, die verloren, kopiert oder missbraucht werden konnten, waren die Fingerabdrücke von allen Autorisierten in einer Datenbank gespeichert. So hatten sie nicht nur das Risiko eines unachtsamen Umgangs mit den Schlüsseln eliminiert, sondern sich auch einen Überblick darüber verschafft, wer wann wo passierte. Es gab zwar auch Überwachungskameras, aber Gesichter konnte man verbergen, Fingerabdrücke nicht. Die Tür öffnete sich mit einem Zischen, und sie kamen in eine Schleuse.

»Ich sage Ihnen, ich schaffe das nicht mehr, Arild.«

Franck legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Zusätzlich zu den Überwachungskameras, die große Teile des Gefängnisareals abdeckten, hatten sie in den Schleusen Gegensprechanlagen montiert. Man konnte also mit dem Kontrollraum kommunizieren, sollte man aus irgendeinem Grund nicht weiterkommen. Sie traten aus der Schleuse und gingen weiter zu den Garderoben mit den Duschen. Dort hatte jeder Angestellte einen eigenen Spind für Kleidung und andere persönliche Dinge. Dass der stellvertretende Gefängnisleiter einen Universalschlüssel hatte, mit dem man alle Schränke öffnen konnte, mussten die Angestellten Francks Meinung nach nicht wissen, eher im Gegenteil.

»Ich dachte, Sie hätten begriffen, mit wem Sie es hier zu tun haben«, sagte Franck. »Sie können da nicht einfach aussteigen. Für diese Leute ist Loyalität eine Frage auf Leben und Tod.«

»Ich weiß«, sagte Per Vollan, und sein Keuchen klang unangenehm belegt. »Für mich geht es aber nicht um das Leben hier auf Erden, sondern um das ewige Leben und den Tod.«

Franck blieb vor dem Ausgang stehen und sah nach links in den Garderobenraum, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren.

»Sie wissen, was Sie riskieren?«

»Ich werde niemandem ein Wort sagen, und Gott weiß, dass ich die Wahrheit sage. Ich will, dass Sie ihnen genau das sagen, Arild. Ich werde verschlossen wie eine Auster sein und einfach nur aussteigen. Können Sie mich aus der Sache rausholen?«

Franck blickte zu Boden. Auf den Sensor. Nach draußen. Es gab nur zwei Wege aus dem Gefängnis heraus. Den Hinterausgang zu den Parkplätzen und den Haupteingang am Empfang. Keine Belüftungsrohre, keine Notausgänge, keine Abwasserrohre, durch die ein Mensch hindurchgepasst hätte. »Vielleicht«, sagte er und legte den Finger auf den Sensor. Das kleine rote Licht oben auf der Klinke zeigte an, dass die Datenbank durchsucht wurde. Es verlosch und wurde durch ein kleines grünes Licht ersetzt. Er drückte die Tür auf.

Die grelle Sommersonne blendete ihn, und er holte seine Sonnenbrille heraus, als sie über den Parkplatz liefen. »Ich werde das weitergeben«, sagte Franck und suchte nach den Autoschlüsseln, während er zum Wachhäuschen hinüberblinzelte. Dort saßen rund um die Uhr zwei bewaffnete Männer, außerdem waren sowohl die Ein- als auch die Ausfahrt mit Stahlschranken ge­sichert, die nicht einmal Arild Francks Porsche Cayenne durchbrechen konnte. Vielleicht hätte es der Hummer H1 geschafft, den er sich eigentlich hatte kaufen wollen, aber der war zu breit für die aus Sicherheitsgründen extra schmal gehaltene Durchfahrt gewesen. Aus denselben Gründen hatte er innerhalb des sechs Meter hohen Zauns rund um das Gefängnis herum Stahlbarrikaden errichten lassen. Franck hatte den Zaun eigentlich unter Strom setzen wollen, aber das war ihm verwehrt worden, da das Staten mitten in Oslo lag und man die unschuldigen Anwohner nicht gefährden wollte. Dabei hätten diese von der Straße aus erst eine fünf Meter hohe Mauer mit Stacheldraht überwinden müssen, um zu dem Zaun zu gelangen, und wer das tat, war sicher kein unschuldiger Anwohner.

»Wo müssen Sie denn hin?«

»Alexander Kiellands plass«, sagte Per Vollan voller Hoffnung.

»Sorry«, erwiderte Arild. »Das liegt nicht auf meinem Weg.«

»Kein Problem, der Bus fährt ja da vorne.«

»Gut, Sie hören von mir.«

Der stellvertretende Gefängnisleiter setzte sich in seinen Wagen und fuhr in Richtung Wachhäuschen. Die Vorschrift besagte, dass alle Wagen angehalten und ihre Insassen kontrolliert werden mussten, und das galt auch für ihn. Da die beiden Wachmänner aber gesehen hatten, wie er aus dem Gefängnis gekommen und in seinen Wagen eingestiegen war, durften sie die Schranke ohne Kontrolle öffnen. Franck erwiderte ihren mili­tärischen Gruß.

Hundert Meter weiter hielt er an der Kreuzung zur Hauptstraße vor der Ampel und studierte sein geliebtes Staten im Rückspiegel. Es war fast perfekt. Fast. Wären da nicht das Bauamt, die idiotischen Vorschriften aus dem Ministerium und die korrupte Personalkommission gewesen. Er hatte für alle immer nur das Beste gewollt. Für die hart arbeitenden, ehrlichen Bürger der Stadt, für alle, die ein Leben in Sicherheit und Wohlstand verdienten. Doch, es hätte anders kommen können. Sein Fehler war es nicht gewesen. Es verhielt sich genau so, wie er es immer seinen Schwimmschülern gesagt hatte: Schwimmt oder geht unter, ihr bekommt nichts geschenkt! Dann kehrten seine Gedanken wieder zu der Nachricht zurück, die er überbringen sollte. Er zweifelte keine Sekunde am Ausgang dieser Geschichte.

Die Ampel wurde grün, und er gab Gas.

Kapitel 3

Per Vollan ging durch den Park am Alexander Kiellands plass. Nach dem nassen und ungewöhnlich kalten Juli schien endlich wieder die Sonne, und der Park leuchtete so grün wie im Frühling. Um ihn herum hatten die Menschen die Augen geschlossen und die Gesichter der Sonne zugewandt, um das Licht in vollen Zügen zu genießen. Skateboards kratzten über den Boden, Bierflaschen klirrten, und überall im Park und auf den Balkonen saßen Leute. Und auch die anderen waren da: die grauen, vom rund um den Platz pulsierenden Verkehr verrußten Gestalten. Sie hockten zusammengesunken auf der Bank am Springbrunnen und schienen trotz des guten Wetters zu frieren. Trotzdem schätzten gerade sie die Rückkehr der Sonne mehr als alle anderen. Es klang wie Möwengeschrei, als sie ihn mit ihren heiseren Zurufen grüßten. Er blieb stehen und wartete darauf, dass die Ampel an der Kreuzung Uelands gate und Waldemar Thranes gate grün wurde, während Lastwagen und Busse dicht an ihm vorbeifuhren. Die Fassade, die auf der anderen Seite der Straße emporragte, wurde immer wieder vom Verkehr verdeckt. Die Fenster der berüchtigten Kneipe Tranen waren mit Plastik verhängt. Dort hatten durstige Seelen seit der Errichtung des Hauses 1921 ihren Frieden finden können. In den letzten dreißig Jahren wurden sie begleitet von Arnie »Skiffle-Joe« Norse, der im Cowboykostüm auf einem Einrad Gitarre spielte und sang, unterstützt von einem älteren blinden Organisten und einer Thaifrau mit Tamburin und Hupe. Per Vollans Blick glitt an der Fassade hoch. Etwas weiter oben prangten die schmiedeeisernen Buchstaben »Ila Pensjonat«. Während des Krieges waren hier Frauen mit unehelichen Kindern aufgenommen worden. Jetzt diente das Haus als städtische Bleibe für schwerstabhängige Junkies. Menschen, die mit den Drogen gar nicht mehr aufhören wollten. Als Endstation.

Per Vollan überquerte die Straße, ging zur Tür, klingelte und schaute direkt in die Kamera. Als er das Summen des Türöffners hörte, betrat er das Haus. Man hatte ihm aus Gefälligkeit für zwei Wochen ein Zimmer gegeben – vor einem Monat.

»Hallo, Per«, sagte die junge Frau mit den braunen Augen, die herunterkam und ihm das Gitter vor der Treppe öffnete. Jemand hatte das Schloss zerstört, die Schlüssel passten von außen nicht mehr.

»Das Hospiz-Café ist eigentlich schon zu, ich glaube aber, es ist noch Essen da. Du musst dich aber beeilen.«

»Danke Martha, ich habe keinen Hunger.«

»Du siehst müde aus.«

»Ich bin vom Staten zu Fuß gelaufen.«

»Oh? Fuhr der Bus nicht?«

Sie ging vor ihm die Treppe hinauf, und er folgte ihr langsam. »Ich musste nachdenken«, sagte er.