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»Sie sollte aber unter zwanzig sein.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Nestor. »War­um sind Sie gekommen?«

»Mein Klient ist ein Freund von Iver Iversen.«

Hugo Nestor musterte ihn genauer. Auch die Wimpern fehlten. Vielleicht litt er wie Hugos Bruder an Alopecia universalis. Wie sein angeblicher Bruder. Der hatte auch kein einziges Haar am Körper. Sollte dem so sein, trug der Kerl eine Perücke.

»Mein Klient ist in der Transportbranche. Er bezahlt in bar und mit Heroin, das auf dem Seeweg gekommen ist. Sie wissen vermutlich besser als ich, was das über den Reinheitsgrad sagt.«

Weniger Zwischenstopps, weniger Mittelsmänner, weniger gestreckter Stoff.

»Lassen Sie mich Iversen kurz anrufen«, sagte Nestor.

Der Kerl schüttelte den Kopf. »Mein Klient setzt vollkommene Diskretion voraus, weder Iversen noch sonst jemand soll etwas erfahren. Dass Iversen seinen Vertrauten alles Mögliche erzählt, ist sein Problem.«

Und unsere Chance, dachte Nestor. Wer war dieser Kerl? Er sah nicht gerade wie ein Laufbursche aus. Ein Protegé? Ein der Familie nahestehender Anwalt?

»Ich verstehe natürlich, dass eine derart direkte Kontaktaufnahme durch einen Fremden eine besondere Absicherung bei der Transaktion erfordert. Als Beweis unserer Seriosität sind mein Klient und ich bereit, einen Vorschuss zu leisten. Was sagen Sie dazu?«

»Vierhunderttausend?«, erwiderte Nestor. »Nur eine Zahl, ich weiß ja immer noch nicht, wovon Sie reden.«

»Natürlich nicht«, sagte der Kerl. »Das lässt sich einrichten.«

»Wie schnell?«

»Ich dachte an heute Abend.«

»Heute Abend?«

»Ich bin nur noch bis morgen früh in der Stadt, dann fliege ich zurück nach London. Der Vorschuss ist in meiner Suite im Plaza.«

Nestor und Bo sahen sich an. Dann leerte Bo das schmale Champagnerglas in einem Zug:

»Ich verstehe kein Wort, Mister. Oder wollen Sie mir zu verstehen geben, dass Sie mich zu einem Glas in Ihrer Suite einladen?«

Der Kerl lächelte kurz. »Genau das tue ich.«

Sie durchsuchten den Mann, sobald sie unten in der Tiefgarage waren. Bo hielt ihn fest, während Nestor ihn nach Waffen oder Mikrofonen abtastete. Der Mann ließ es ungerührt geschehen. Er war sauber.

Bo fuhr die Limousine zum Plaza, und sie gingen vom Parkhaus hinter dem Spektrum zu Fuß zu dem gläsernen Wolkenkratzer. Aus dem Außenaufzug blickten sie auf die Stadt hinunter, und Nestor dachte, es war die reinste Metapher, dass die Menschen dort unten kleiner und kleiner wurden, je höher er selbst kam.

Bo zog seine Pistole, als der Mann ihnen die Tür aufschloss. Es gab eigentlich keinen Grund für einen Hinterhalt, Nestor hatte zurzeit keine ihm bekannten Feinde, die noch am Leben waren. Keine ungeklärten Streitereien auf dem Markt, und auch die Polizei hatte nichts gegen ihn in der Hand, sie durften ihn also gerne festnehmen. Trotzdem spürte Nestor eine unbestimmte Unruhe, die er sich nicht erklären konnte. Er hielt das Gefühl für professionelle Wachsamkeit und achtete darauf, immer in Deckung zu bleiben. Das mussten so einige andere in dieser Stadt noch von ihm lernen. Schließlich hatte er es nicht ohne Grund so weit gebracht.

Die Suite war okay, die Aussicht hingegen wirklich überwäl­tigend. Der Kerl hatte zwei Aktenkoffer auf den Wohnzimmertisch gelegt. Während Bo die anderen Räume überprüfte, trat der Mann hinter die Bar und begann Drinks zu mixen.

»Bitte sehr«, sagte er und zeigte auf die Aktenkoffer.

Nestor trat an den Tisch und hob den Deckel erst des einen, dann des anderen Koffers hoch.

Es waren mehr als vierhunderttausend. Mit Sicherheit.

Und wenn der Stoff in dem anderen Koffer so rein war, wie der Kerl es angedeutet hatte, reichte das, um ein ganzes Dorf kleiner Asiatinnen zu kaufen.

»Was dagegen, dass ich den Fernseher einschalte«, sagte Nestor und griff zur Fernbedienung.

»Nur zu«, sagte der Mann, der noch mit den Drinks beschäftigt war und nicht sonderlich geübt schien. Gerade schnitt er eine Zitrone für die drei Gin Tonic in Scheiben.

Nestor drückte auf den Pay-TV-Knopf, switchte sich durch die Kinder- und Familienprogramme bis zu den Pornos und drehte den Ton lauter. Dann trat er an die Bar.

»Sie ist sechzehn und wird morgen gegen Mitternacht auf den Parkplatz vom Ingierstrandbad geliefert. Sie parken in der Mitte des Platzes und steigen nicht aus dem Auto. Einer von uns kommt zu Ihnen, setzt sich auf den Rücksitz und zählt das Geld. Wenn alles okay ist, geht er, und ein anderer bringt das Mädchen. Verstanden?«

Der Mann ohne Augenbrauen nickte.

Nicht gesagt hatte Nestor, weil es nicht gesagt werden durfte, dass das Mädchen nicht in dem Auto sein würde, mit dem das Geld abgeholt wurde. Das Geld hatte den Treffpunkt schon längst verlassen, wenn das Mädchen kam. Es war dasselbe Prinzip wie beim Drogenhandel.

»Und das Geld …«

»Vierhunderttausend, wie gesagt«, sagte Nestor.

»In Ordnung.«

Bo kam aus dem Schlafzimmer und blieb stehen, den Blick auf den Fernseher gerichtet. Ihm schien zu gefallen, was er sah. Wie allen anderen. Er selbst fand Pornos nützlich, den immer vorhersehbaren, gleichmäßigen Soundtrack des Stöhnens konnte man gut nutzen. Bei »Oh my god« und »Yes, fuck me good« scheiterten die meisten Abhörversuche.

»Ingierstrandbad, morgen um Mitternacht«, wiederholte Nestor.

»Sollen wir darauf anstoßen?«, fragte der Mann und reichte ­ihnen zwei Gläser.

»Danke, aber ich fahre«, sagte Bo.

»Klar«, sagte der Mann lachend und schlug sich gegen die Stirn. »Cola?«

Bo zuckte mit den Schultern, und der Kerl öffnete eine Dose Cola, goss sie in ein Glas und schnitt eine Scheibe von der Zi­trone ab.

Sie prosteten sich zu und setzten sich an den Tisch. Nestor gab Bo ein Zeichen, der das erste Bündel Scheine aus dem Koffer nahm und laut zu zählen begann. Er hatte aus dem Auto eine ­Tasche mitgebracht, in der er die Scheine verstaute. Die Verpackung des Bezahlers übernahmen sie nie, da sie Sensoren enthalten konnte, die den Weg des Geldes nachzeichneten. Erst als Bo sich zu verzählen begann, merkte Nestor, dass etwas nicht stimmte. Er wusste nur nicht, was. Er sah sich um. Hatten die Wände wirklich eine andere Farbe bekommen? Dann starrte er erst in sein und dann in Bos leeres Glas, bevor er den Anwalt anblickte.

»Warum nehmen Sie keine Zitrone?«, fragte Nestor und hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne. Die Antwort klang ebenso fern:

»Zitrusfrucht-Intoleranz.«

Bo hatte zu zählen aufgehört und hockte mit hängendem Kopf vor dem Geld.

»Sie haben uns Drogen gegeben«, sagte Nestor und griff nach dem Messer im Beinhalfter. Er registrierte noch, dass er am falschen Bein suchte, als er den Fuß der Lampe auf sich zukommen sah und alles schwarz wurde.

Hugo Nestor hatte zeit seines Lebens Musik geliebt. Und damit meinte er nicht die Art von Lärm und kindlicher, simpler Aneinan­derreihung von Tönen, die man allgemein als Musik bezeichnete, sondern Musik für Erwachsene, Musik für denkende Menschen. Richard Wagner. Chromatische Tonleitern. Zwölf Halbtonschritte mit einem Frequenzverhältnis entsprechend der zwölften Wurzel aus zwei. Reine, pure Mathematik, Harmonie, deutsche Ordnung. Aber dieses Geräusch war das Gegenteil von Musik. Unordnung, Töne, die in keiner Verbindung zueinander standen, Chaos. Als er wieder wach wurde, realisierte er, dass er in einem Auto in irgendeinem Behälter lag. Ihm war übel, und ­alles drehte sich. Seine Hände und Füße waren mit etwas Scharfem gefesselt, das in seine Haut schnitt. Vermutlich waren das Plastikstrips, manchmal benutzte er die auch bei seinen Mädchen. Nachdem der Wagen gehalten hatte, wurde er herausge­hoben und erkannte, dass er sich in einer Art Koffer mit Rädern befinden musste. Halb liegend, halb stehend wurde er über unebenes Terrain geschoben und hörte dabei den keuchenden Atem des Mannes, der ihn vor sich herbugsierte. Nestor schrie ihn an, bot ihm Geld, um freigelassen zu werden, bekam aber keine Antwort. Er hörte nur diesen unmusikalischen, atonalen Krach, der immer lauter wurde und den er längst erkannt hatte, als der Koffer gekippt wurde und er auf dem Rücken lag und das kalte Wasser spürte, das durch den Stoff des Koffers und seinen Anzug drang. Moorwasser.