»›Wir haben ein etwas schlechtes Gewissen‹«, sagte Simon, »›aber ich glaube, Glas und Beton passen besser zu den Menschen unserer Zeit.‹«
»Hä?«
»Das waren die Worte des Direktors der OBOS-Wohnungsbaugenossenschaft, 1960.«
»Ach so«, sagte Kari und gähnte wieder. Simon fragte sich, ob auch er ein etwas schlechtes Gewissen haben sollte, weil er sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte. Es war durchaus zu diskutieren, ob eine solche Aktion überhaupt nötig war. »Warum ist Delta nicht hier?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte Simon. Im selben Moment erleuchtete das Display des Handys, das zwischen den Sitzen lag, den Wageninnenraum. Er sah die Nummer.
»Gleich wissen wir’s«, sagte er und legte das Telefon ans Ohr. »Ja?«
Simon sah in den Rückspiegel. Ein Psychologe hätte vielleicht erklären können, weshalb jemand als Reaktion auf die Stimme des anderen einen Blick nach hinten warf.
»Warum nicht?«
»Weil der Einsatz weder begründet noch seine Notwendigkeit plausibel belegt worden ist. Außerdem wurde nicht einmal der Versuch unternommen, die Stellen zu erreichen, die einen Einsatz von Delta autorisieren könnten.«
»Du kannst das autorisieren, Pontius.«
»Ja, und ich habe nein gesagt.«
Simon fluchte leise. »Hör mal, das …«
»Nein, jetzt hörst du mir mal zu! Ich habe Falkeid gebeten, die Aktion abzubrechen, seine Männer sollen ruhig etwas Schlaf bekommen. Was treibst du eigentlich, Simon?«
»Ich habe Grund zur Annahme, dass in dem Haus Enerhauggata 96 Menschen gefangen gehalten werden. Ehrlich gesagt, Pontius, das …«
»Ehrlich gesagt, ist gut, Simon. Auch wenn man mit dem Leiter von Delta spricht.«
»Wir hatten nicht die Zeit für Diskussionen. Wir haben überhaupt keine Zeit. Verdammt! Du hast doch früher meiner Einschätzung vertraut.«
»Gut, dass du früher gesagt hast, Simon.«
»Dann vertraust du mir nicht mehr?«
»Du hattest all dein Geld verspielt, erinnerst du dich? Und das Geld deiner Frau. Was meinst du, sagt das über deine Einschätzungsgabe aus?«
Simon biss die Zähne zusammen. Es gab einmal eine Zeit, in der nicht vorherbestimmt war, wer eine Auseinandersetzung gewann. Wer die besten Noten erhielt, am schnellsten rannte oder die hübschesten Mädchen für sich gewinnen konnte. Damals war nur sicher gewesen, dass sie hinter dem Dritten der Troika landeten. Aber der war jetzt tot. Und dass Pontius Parr immer über alles am längsten nachdachte.
»Wir reden morgen früh darüber«, sagte der Polizeipräsident mit dem natürlichen Selbstvertrauen, das die Menschen heute zu dem Glauben verleitete, Pontius Parr wisse über alles am besten Bescheid. Auch über sich selbst. »Wenn das ein Traffickinghaus ist, wie es in deinem Tipp heißt, wird das morgen früh ja auch noch so sein. Fahr nach Hause und schlaf dich aus.«
Simon öffnete die Autotür, stieg aus und signalisierte Kari sitzen zu bleiben. Er schloss die Tür, ging ein paar Meter nach hinten und sagte leise:
»Ich kann nicht warten. Das eilt, Pontius.«
»Wieso glaubst du das?«
»Der Tipp.«
»Und wo hast du den her?«
»Eine SMS … von einem Unbekannten. Ich gehe selbst rein.«
»Was? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Stopp, Simon. Hast du verstanden? Bist du noch da?«
Simon warf einen Blick auf sein Handy und legte es wieder ans Ohr. »Einschätzung des Polizisten vor Ort. Erinnerst du dich noch, dass wir das mal gelernt haben, Pontius? Und dass das immer entscheidender war als der Befehl von Außenstehenden?«
»Simon! Es herrscht schon genug Chaos in der Stadt. Der Senat und die Presse rücken uns wegen all dieser Morde verdammt auf die Pelle. Bring jetzt keine Lawine ins Rollen, okay? Simon?«
Simon legte auf, schaltete das Handy aus und öffnete den Kofferraum. Er nahm das Gewehr heraus, die Pistole und die Schachtel mit der Munition. Dann griff er sich die beiden schusssicheren Westen, die lose im Kofferraum lagen, und stieg wieder ein.
»Wir gehen rein«, sagte er und reichte Kari das Gewehr und eine Weste.
Sie sah ihn an. »Haben Sie mit dem Polizeipräsidenten gesprochen?«
»Ja«, sagte Simon und überprüfte, ob das Magazin der Glock 17 gefüllt war, bevor er es wieder in den Schaft drückte. »Können Sie mir die Handschellen und die Blendgranate geben? Sie liegen im Handschuhfach.«
»Eine Blendgranate?«
»Fallobst von der Razzia im Ila.«
Sie reichte Simon die Peerless-Handschellen und die Granate. »Hat er den Einsatz genehmigt?«
»Er ist einverstanden«, sagte Simon und zog sich die Weste über.
Kari klappte das Schrotgewehr auf und lud es schnell und routiniert.
»Schneehuhnjagd«, sagte sie, »seit ich neun war.« Sie hatte ganz offensichtlich Simons Blick bemerkt. »Aber die anderen Gewehre mag ich lieber. Wie machen wir es?«
»Auf drei«, sagte Simon.
»Ich meine, wie greifen wir an …«
»Drei«, sagte Simon und öffnete die Autotür.
Das kleine Hotel Bismarck lag mitten in Oslo, im Herzen von Kvadraturen, dem Geburtsort der Stadt, an der Straßenkreuzung zwischen Drogen- und Prostitutionsmarkt. Die Zimmer wurden folglich auf Stundenbasis vermietet, inklusive vom vielen Waschen steif gewordener Handtücher. Die Zimmer waren nicht mehr renoviert worden, seit der jetzige Besitzer das Hotel vor sechzehn Jahren übernommen hatte, nur die Betten wurden alle zwei Jahre wegen akuter Abnutzungserscheinungen ausgetauscht.
Als der Sohn des Besitzers, Ola, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr an der Rezeption saß, um 03.02 Uhr vom PC aufblickte und den Mann vor dem Tresen musterte, war sein erster Gedanke, dass dieser Gast sich verlaufen haben musste. Nicht nur, weil er einen teuren Anzug trug und zwei Aktenkoffer, außerdem noch eine rote Tasche in der Hand hielt, sondern auch, weil er weder in männlicher noch in weiblicher Begleitung war. Der Mann bestand aber auf einem Zimmer und wollte eine Woche im Voraus bezahlen. Dann nahm er mit fast demütigem Dank das Handtuch, das Ola ihm reichte, und verschwand über die Treppe nach oben.
Ola widmete sich daraufhin wieder der Online-Ausgabe der Aftenposten und las den Artikel über die Mordwelle in Oslo. Diskutiert wurde wieder einmal die Frage, ob es sich um einen Bandenkrieg handelte oder ob die Vorfälle etwas mit dem Mörder zu tun haben konnten, der aus dem Staten ausgebrochen war. Einen Moment zögerte Ola bei dem Bild, dann wies er den Gedanken von sich.
Simon blieb vor der Treppe des Hauses stehen und gab Kari das Zeichen, ihre Waffe zu ziehen und die Fenster im Obergeschoss im Auge zu behalten. Dann ging er die drei Stufen nach oben, klopfte mit dem Zeigefingerknöchel vorsichtig an die Tür und flüsterte »Polizei«. Er sah zu Kari, um sich zu vergewissern, dass sie die korrekte Prozedur bezeugen konnte. Klopfte und flüsterte noch einmal »Polizei«. Er legte die Finger fester um den Schaft der Waffe und beugte sich zur Seite, um die Scheibe neben der Tür einzuschlagen. Die Blendgranate hielt er bereits in der anderen Hand. Er hatte einen Plan. Natürlich hatte er einen Plan. Eine Art Plan. Und in diesem Plan kam es in erster Linie auf das Überraschungsmoment und ihre Schnelligkeit an. Sie mussten alles auf eine Karte setzen. Wie Simon es immer getan hatte, und das war, nach Meinung des jungen Psychologen, seine Krankheit. Nach neuen Forschungsergebnissen überschätzten die Menschen ständig die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Unwahrscheinliches geschehen konnte … Zum Beispiel, dass man bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Dass das eigene Kind vergewaltigt oder auf dem Schulweg entführt wurde, oder dass das Pferd, auf das man das Ersparte seiner Frau gesetzt hatte, zum ersten Mal in seiner Karriere komplett versagte. Der Psychologe war seinerzeit überzeugt davon gewesen, dass es in Simons Unterbewusstsein etwas gab, das stärker war als die Vernunft, und dass er dieses Kranke, diesen verrückten Diktator, der ihn terrorisierte und sein Leben zerstörte, nur identifizieren und ansprechen musste. Simon sollte sich immer darüber im Klaren sein, was in seinem Leben wirklich wichtig war. Wichtiger als dieser Diktator. Was er mehr liebte als das Spiel. Schließlich gab es das ja. Else. Und er hatte es geschafft. Hatte über das Tier gesprochen, das Übel, und es gezähmt. Ohne einen einzigen Ausrutscher. Bis jetzt.