»Siehst du, ich bin nur ein bisschen Speck losgeworden«, sagte er lächelnd.
Sie hatte schon Schlimmeres gesehen. Aber auch Besseres. Sie reinigte die Wunden und legte Kompressen auf die Ein- und Austrittsstellen des Projektils. Dann wickelte sie ihm eine Bandage um den Bauch. Zuletzt löste sie das Tuch von seiner Stirn. Die Wunde begann sofort wieder zu bluten.
»Hatte deine Mutter Nähsachen? Sind die noch irgendwo?«
»Das muss doch nicht …«
»Halt den Mund, habe ich gesagt.«
Sie brauchte vier Minuten und vier Stiche, um die Wundränder zusammenzunähen.
»Ich habe den Aktenkoffer im Flur gesehen«, sagte er, während sie die Mullbinde um seinen Kopf wickelte.
»Das ist nicht mein Geld. Außerdem hat die Kommune uns ja das Geld für die Renovierung zugesichert. Aber trotzdem danke.« Sie klebte ein Pflaster auf die Wunde und streichelte ihm über die Wange. »So, das sollte …«
Er küsste sie. Mitten auf den Mund. Und ließ sie los.
»Ich liebe dich.«
Dann küsste er sie wieder.
»Ich glaube dir nicht«, sagte sie.
»Du glaubst mir nicht, dass ich dich liebe?«
»Ich glaube dir nicht, dass du schon andere Mädchen geküsst hast. Du küsst schrecklich.«
Seine Augen funkelten, als er lachte. »Na ja, da war eine lange Pause dazwischen. Wie ging das noch mal?«
»Hab keine Angst, dass nicht genug passieren könnte. Lass es einfach geschehen. Küss langsam.«
»Langsam?«
»Wie eine schläfrige, weiche Anakonda. So.«
Sie nahm seinen Kopf vorsichtig zwischen die Hände und legte ihren Mund auf seinen. Wie seltsam natürlich es war, wie zwei Kinder, die ein spannendes, aber unschuldiges Spiel spielten. Dass er ihr vertraute. Dass sie ihm vertraute.
»Verstehst du?«, flüsterte sie. »Mehr Lippen, weniger Zunge.«
»Mehr Kupplung, weniger Gas.«
Sie kicherte. »Genau. Gehen wir ins Bett?«
»Und was passiert da?«
»Das sehen wir dann. Wie fühlt sich deine Seite an? Hält der Verband?«
»Hält für was?«
»Stell dich nicht so dumm.«
Er küsste sie wieder. »Bist du dir sicher?«, flüsterte er.
»Nein. Wenn wir also zu lange warten …«
»Lass uns ins Bett gehen.«
Rover stand auf und streckte stöhnend den Rücken. Vor lauter Eifer hatte er gar nicht gemerkt, dass sein Körper ganz steif geworden war. Wie wenn er Janne liebte, die manchmal, manchmal aber auch nicht, zu ihm kam, um zu sehen, »was er so machte«. Er hatte ihr zu erklären versucht, dass es gar kein so großer Unterschied war, ob er an einer Maschine schraubte oder sich um sie kümmerte. Man konnte stundenlang in derselben Position verharren und die immer gleiche Bewegung machen, ohne zu spüren, wie sehr die Muskeln schmerzten oder die Zeit verging. Erst hinterher kam die payback time. Sie hatte seinen Vergleich gemocht. Aber Janne war ja auch Janne.
Rover wischte sich die Hände ab. Die Arbeit war geschafft. Als Letztes hatte er den neuen Auspuff an die Harley-Davidson geschraubt. Eigentlich nur das Tüpfelchen auf dem i. Wie wenn ein Klavierbauer das Klavier stimmt. Man konnte bis zu zwanzig Pferdestärken allein durch die richtige Kombination von Auspuff und Luftfilter erreichen, aber eigentlich ging es beim Auspuff nur um den Sound. Das wussten alle. Um den tiefen, brummenden, saftigen Bass, der mit nichts vergleichbar war. Natürlich könnte er den Schlüssel umdrehen und der Musik des Motors lauschen, nur um bestätigt zu bekommen, was er bereits wusste. Er konnte sich das aber auch bis zum nächsten Morgen aufheben. Janne sagte immer, dass man das Gute nicht aufschieben sollte, schließlich könnte einem niemand garantieren, dass man am nächsten Tag überhaupt noch lebte. Vermutlich war Janne so zu Janne geworden.
Rover wischte sich das Öl mit einem Lappen von den Fingern, als er ins Hinterzimmer ging, um sich die Hände zu waschen. Er sah sich im Spiegel. Schwarze Kriegsbemalung und Goldzahn. Wie üblich spürte er jetzt, nachdem er fertig war, auch die anderen Bedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen. Das war das Beste.
Aber nach einem Projekt wie diesem gab es auch immer eine seltsame Leere. Dann stellten sich Fragen wie »Was nun?« oder »Wofür das Ganze?«. Er jagte den Gedanken fort und starrte auf das warme Wasser, das aus dem Hahn strömte. Zuckte zusammen und drehte das Wasser ab. War das Geräusch aus der Garage gekommen? Janne? Jetzt?
»Ich liebe dich«, sagte Martha.
Irgendwann hatte er aufgehört – beide außer Atem, schwitzend, rot –, hatte den Schweiß zwischen ihren Brüsten mit dem Laken, das sie unter der Matratze hervorgezerrt hatten, weggewischt und gesagt, sie könnten hier auftauchen, es sei gefährlich. Und sie hatte gesagt, sie lasse sich nicht so schnell Angst einjagen, wenn sie sich erst einmal für etwas entschieden habe. Und wenn sie schon reden müssten, könne sie ihm übrigens sagen, dass sie ihn liebe.
»Ich liebe dich.«
Dann machten sie weiter.
»Eine Sache ist es, mir keine Waffen mehr zu besorgen«, sagte der Mann und streifte sich einen dünnen Handschuh von der Hand. Der größten Hand, die Rover je gesehen hatte. »Eine andere, sie meinem Feind zu besorgen, verstanden?«
Rover versuchte nicht, sich zu befreien. Er wurde von zwei Männern festgehalten, und ein dritter stand neben dem großen Mann und hatte eine Pistole auf Rovers Stirn gerichtet. Eine Pistole, die Rover gut kannte, weil er sie selbst modifiziert hatte.
»Dass du diesem Kerl eine Uzi gegeben hast, war etwa so klug, wie mir eine Visitenkarte mit der Aufforderung zu schicken, zur Hölle zu fahren. Willst du das? Willst du mich in die Hölle schicken?«
Rover hätte darauf antworten können. Sagen, dass der Zwilling nach allem, was er wusste, ja aus der Hölle kam.
Aber er tat es nicht. Er wollte noch ein bisschen leben. Ein paar Sekunden.
Er starrte auf das Motorrad, das hinter dem Großen stand.
Janne hatte recht. Er hätte den Motor anlassen sollen. Hätte die Augen schließen und dem Sound lauschen, sich mehr gönnen sollen. Es war eine ebenso banale wie einleuchtende Tatsache, trotzdem aber so unfassbar, dass man erst auf der Schwelle ins Jenseits erkannte, wie banal sie war: Es gab nur eine einzige Gewissheit, man musste sterben.
Der Mann legte die Handschuhe auf die Werkbank. Sie sahen aus wie gebrauchte Kondome. »Mal sehen …«, sagte er und betrachtete das Werkzeug an der Wand. Dann streckte er seinen Zeigefinger aus und sagte mit leiser Stimme: »Ene, mene, miste …«
Kapitel 38
Draußen wurde es langsam hell.
Martha lag dicht an Sonny geschmiegt, hatte die Beine um seine geschlungen. Sie hörte, dass sich der gleichmäßige Rhythmus seines Atems veränderte. Aber seine Augen waren noch geschlossen. Sie streichelte ihm über den Bauch und sah, dass er leicht lächelte.
»Guten Morgen, lover boy«, flüsterte sie.
Er lächelte breit, schnitt aber eine Grimasse, als er sich zu ihr umdrehen wollte.
»Schmerzen?«
»Nur in der Seite«, stöhnte er.
»Es blutet aber nicht mehr, ich habe das heute Nacht ein paarmal überprüft.«
»Was? Du nimmst dir solche Freiheiten, während ich schlafe?« Er küsste sie auf die Stirn.
»Ich denke, du hast dir heute Nacht auch ein paar Freiheiten genommen, Herr Lofthus.«
»Du darfst nicht vergessen, für mich war es das erste Mal«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Freiheiten sind und was nicht.«
»Du bist ein elender Lügner«, sagte sie.
Er lachte.
»Ich habe nachgedacht«, sagte sie.
»Ja?«
»Lass uns verschwinden. Jetzt sofort.«
Er antwortete nicht, aber sie spürte, wie sich sein Körper automatisch anspannte. Und plötzlich kamen ihr die Tränen, unaufhaltsam, als wäre in ihr ein Damm gebrochen. Er drehte sich um und nahm sie in die Arme.
Wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
»Was hast du ihnen gesagt?«, fragte er.
»Dass Anders und ich es nicht schaffen, bis zum Sommer zu warten«, schniefte sie. »Dass wir uns schon jetzt trennen wollen. Dass ich das will. Und dann bin ich gegangen. Unten auf der Hauptstraße habe ich mir ein Taxi genommen. Ich sah ihn hinter mir herlaufen, mit seiner verfluchten Mutter im Schlepptau.« Sie lachte laut und begann dann wieder zu weinen. »Tut mir leid«, schluchzte sie. »Ich bin so … so dumm! Mein Gott! Was tue ich hier eigentlich?«