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»Mach den Mund wieder zu«, sagte Lovisa. »Schau lieber dorthin, da kommt das Westtor des Schlosses!« Unmerklich war der Weg steiler geworden. Als Elin genauer hinsah, erkannte sie Wallgräben, eine hohe Festungsmauer und dahinter prächtige, helle Steingebäude, Türme und Spitzen. Das Schloss befand sich am Nordostrand der Insel – zum Teil sah es sogar so aus, als wäre das Gebäude ein Teil der Insel. Zwischen den kupfergedeckten Zinnen und Gebäudedächern ragte ein runder Verteidigungsturm hervor. Nur bei genauem Hinsehen erkannte Elin auf seiner Spitze die drei goldenen Kronen.

Die Kutsche fuhr durch das von zwei Rundtürmen flankierte Tor und dann scharf nach links in den rechteckigen Innenhof der Burg. Als sei damit ein Bann von ihnen genommen, schnatterten alle Damen im Schlitten gleichzeitig los. Die Kutschentür flog auf und die blaugelbe Livree eines Dieners leuchtete auf. »Los, los!«, scheuchte eine plötzlich lebhaft gewordene Lovisa Elin auf. »Steig schon aus!«

Nach den unzähligen Stunden im Schlitten kam es Elin so vor, als würde sie schwankenden Boden betreten. Aus den anderen Schlitten quollen Röcke und mit Pelz umnähte Mäntel. Diener kamen herbeigelaufen, trugen Truhen, Packen von Stoff, Körbe und Kästen davon. Elin drückte ihr Bündel an sich und sah sich mit bangem Herzen um. Noch nie hatte sie sich so verloren gefühlt. Von weitem sah sie Magnus de la Gardie und die drei Franzosen aus dem Schlitten steigen. Der junge Marquis ließ sich stützen, sein Knie sah noch dicker aus als vor zwei Tagen.

TEIL II 

Tre Kronor

Das Leben im Schloss war weder golden noch einfach. Es steckte voller Stolperfallen und versteckter Regeln, von denen Elin nichts wusste – bis zu dem Moment, in dem sie sie übertrat. Das neue Mieder, das ihr zwar auf den Leib geschneidert war, aber umso enger saß, war bei weitem nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Verbot, Wasser zu trinken. Wein und Bier, so rieten die Ärzte der Königin, seien gesünder als Wasser, das verunreinigt sein konnte. Selbst als Elin darum bat, Dünnbier trinken zu dürfen, wurde ihr diese Bitte verwehrt.

»Das ist etwas für arme Leute«, wies Tilda sie mit gutmütigem Spott zurecht. »Denkst du etwa, das, was die Königin trinkt, sei nicht gut genug für dich?« So blieb Elin nichts anderes übrig, als sich so oft wie möglich aus der Kammer zu schleichen. Über Arkadengänge und Treppen erreichte sie die Räume im Ostflügel des Schlosses, wo sie heimlich frisch gefallenen Schnee von einem Fenstersims kratzte und ihn auf der Zunge zergehen ließ. In diesen Augenblicken war die Sehnsucht nach Emilia nicht mehr ganz so schlimm. Der Wind und der frische Geschmack von Winter gaben ihr das Gefühl, wieder lebendig zu werden. Längst kam es ihr so vor, als würde sie das Leben nur noch durch Glasfenster beobachten. Die Nord- und Ostmauern fielen direkt zum Hafen ab – so nah stand das Schloss am Wasser, dass es aussah, als könnte ein Kapitän, der mit seinem Schiff am Schloss vorbeifuhr, seine Hand über die Reling strecken und das Gemäuer berühren. Elin betrachtete die Eisangler und staunte über die Bürger und Adligen, die sich Kufen unter die Schuhe gebunden hatten und über den zugefrorenen See glitten. Ein aus Backsteinen erbauter Palast auf dem Festland faszinierte sie besonders – nicht weit von ihm befand sich die Brücke zu Skeppsholm, der »Schiffsinsel«, auf der sich die Werft befand. Selbst jetzt im Winter brannten dort vereinzelt Feuer, über denen die Spanten für die Kriegsschiffe getrocknet und dabei in Form gebogen wurden. Und weit draußen auf dem Wasser lag auch noch Djurgärden, der »Tiergarten«, die bewaldete Jagdinsel der Königin.

Elins Welt dagegen war mit einem Mal zu einem winzigen Fleck zusammengeschrumpft. Immer wenn sie aus einem der vielen Fenster in die Tiefe blickte – in die verwinkelten, schattigen Höfe des Schlosses, wurde ihr schwindlig. Doch im Inneren des Schlosses fürchtete sie sich ebenso – zum Beispiel davor, die kostbaren Möbel zu berühren. Ständig war sie peinlich bemüht, genug Abstand zwischen ihrem Rock und den Wandteppichen zu halten. Zu allem Überfluss hatte Lovisa ihr einen Stoffwulst um die Hüfte gebunden, der »Weiberspeck« hieß und die Taille betonen sollte, aber Elin kam sich damit vor, als trüge sie unter ihrem schweren Rock riesige Taschen, mit denen sie durch keine Tür mehr passte. Manchmal blieb sie stehen und betrachtete aus sicherer Entfernung die Stickereien.

»Kind, du bist doch kein Geist!«, rief Lovisa, als sie Elin lautlos und eilig vorbeihuschen sah. »Meine Güte, du trampelst entweder wie ein Bauer oder schleichst wie ein Nebelschweif! Lauf anmutig!«

»Ich will nicht anmutig laufen, ich will endlich eine Arbeit.«

»Und widersprich nicht ständig.«

»Dann gib mir eine Aufgabe!«

»Du hast jede Menge Aufgaben: Du musst lernen, anmutig zu gehen, mit dem Besteck zu essen, zu sticken und dich zu benehmen. Vorher kommst du mir nicht einmal in die Nähe der Königin, geschweige denn an die Festtafel.«

»Ich will nicht an die Festtafel! Ich will etwas tun. Es gibt Küchen hier – und Ställe.«

Lovisa zog misstrauisch die Stirn kraus.

»Wo wolltest du gerade hin? Doch nicht etwa in den Stall?«

Elin strich verlegen ihren verrutschten Ärmel zurecht. Es hatte keinen Sinn, Lovisa etwas vorzumachen.

»Zur Königin wollte ich«, gab sie zu. »Zum Audienzraum. Und wenn die Bauern und Geistlichen und Bürger ihre Bitten vorbringen, wollte ich sie fragen, ob ich bald eine Arbeit bekomme.«

Das erwartete Donnerwetter von Lovisa blieb aus. Stattdessen seufzte die Hofdame tief und sah auf einmal sehr faltig und müde aus.

»Ach Kind«, sagte sie leise. »Die Königin hat anderes zu tun, als sich um dich zu kümmern. Heute gibt sie keine Audienz.« Ihre Stimme wurde strenger. »Wenn sie befiehlt, dass du in der Küche Töpfe scheuerst, wirst du es tun. Bis dahin lernst du das, was alle Mädchen im Schloss lernen. Wenn du so versessen darauf bist, dich nützlich zu machen, geh ins Zimmer und mach deine Stickerei fertig.«

»Das ist eine Arbeit für gelangweilte Witwen!«

Lovisas Augen funkelten so gefährlich, dass Elin in Erwartung einer Ohrfeige den Kopf einzog. Aber Lovisa hatte sie noch nie geschlagen und auch jetzt fächelte sie sich nur mit einer zornigen Geste Luft zu. Ihre Löckchen wippten.

»Na schön«, sagte sie scharf. »Dann verschwinde – ich hab genug von dir! Scher dich dorthin, wo du meinst, dass du hingehörst! Geh von mir aus direkt in den Stall und biete dem Pferdeknecht deine Dienste an.«

Mit diesen Worten raffte sie ihren schwarzen Rock und rauschte durch eine der Flügeltüren in das Zimmer, in dem die Hofdamen sich zum Nähen und Tratschen versammelt hatten. Im ersten Augenblick wollte Elin Lovisa hinterherlaufen und sie um Verzeihung bitten. Doch dieser Augenblick verging. Lovisa hatte sie tatsächlich gehen lassen! Langsam wandte Elin sich um und blickte auf den langen, leeren Gang. Zum ersten Mal gehörte ein Stück der endlosen Zeit, die sie ansonsten dafür verwendete, das zu tun, was man ihr sagte, nur ihr allein. Am liebsten wäre sie losgerannt, so aber, in den hohen Schuhen und mit dem schweren Rock, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gemessenen Schrittes fortzubewegen. Die Gemächer der Königin lagen im Ostflügel des Schlosses. Elin fasste sich ein Herz und machte sich auf den Weg.

Das Schloss war ein Labyrinth mit tausenden von Winkeln. Manche Türen und Gänge waren versperrt, die Gardisten, die sie bewachten, musterten Elin mit finsteren Gesichtern, bereit, die Hellebarden zu senken und sie zurückzuhalten, sollte sie versuchen, den Raum zu betreten. Elin lächelte in sich hinein. Manchmal hatte es doch Vorteile, im Gewand eines Edelfräuleins herumzulaufen. Eine Scheuermagd hätten sie sofort davongejagt. Sie betrachtete die aus Stein gemeißelten Fruchtgirlanden über den Türen. Der in die Form von Trauben und Birnen gehauene Sandstein war bunt bemalt. Aus anderen Winkeln blickten ihr Löwengesichter entgegen. Endlich erreichte sie den Ostflügel und blieb vor einem Wandteppich stehen. Mit golddurchwirktem Garn war darauf eine biblische Geschichte eingestickt, die sie von Lovisa kannte. Die Figuren von Ishmael und seiner Mutter Hager waren altertümlich dargestellt, aber so prächtig, dass Elin der Atem wegblieb. Rasch vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete, und streckte vorsichtig die Hand aus. Ihre Finger kribbelten, als sie behutsam die kostbaren Stickereien berührte. Es war ein Gefühl, als hätte ihr jemand ein Geschenk gemacht. Mutiger geworden, ließ sie ihre Finger über vergoldete Bilderrahmen und Türbeschläge wandern, erwiderte die düsteren Blicke der Ahnenbilder und berührte die Rüstungen, die wie Gespensterritter nur darauf zu warten schienen, die Lanze zu heben und anzugreifen. Am Fuß einer schmalen Treppe blieb Elin stehen. Das Gemälde, das hier hing, war anders als die Porträts und Tapisserien. Die Farben waren nicht dunkel und gedeckt – sie leuchteten! Es war, als blickte sie durch ein Fenster mitten in den Frühling. Allerdings war es ein Frühling, wie Elin ihn noch nie erlebt hatte. Zartes Blau und goldenes Rosa vereinten sich zu purem Licht. Und mitten in dem blühenden Wald räkelte sich eine nackte Dame! Ihre Brüste waren unbedeckt – einen Zweig mit saftig grünen Blättern hielt sie lässig und kokett so, dass ihre Scham verdeckt war. Putten mit winzigen Flügeln schwebten über den Bäumen oder tollten über das Gras. Andere junge Frauen, so bekleidet, dass sie kaum weniger schamlos wirkten als die Nackte, tanzten auf der Wiese. Mit einem nackten Mann! Elin ging noch näher an die Leinwand heran. Es duftete nach Öl und Harz – und ein bisschen vielleicht auch nach den zarten Rosen, die den Wolken ihre Farbe liehen. War das tatsächlich ein Kuss, der dort hinten dargestellt war?