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Mozart lachte lautlos, hatte nun aber doch die große Güte, das Radio abzustellen.

Meine Verteidigung klang mir selbst, der ich eben noch treuherzig an sie geglaubt hatte, unversehens recht töricht. Als einst Hermine – so erinnerte ich mich plötzlich – über Zeit und Ewigkeit gesprochen hatte, da war ich sofort bereit gewesen, ihre Gedanken für ein Spiegelbild meiner eigenen Gedanken anzusehen. Daß aber der Gedanke, sich von mir töten zu lassen, Herminens eigenster Einfall und Wunsch und von mir nicht im mindesten beeinflußt sei, hatte ich als selbstverständlich angenommen. Aber warum hatte ich damals diesen schrecklichen und so befremdlichen Gedanken nicht bloß angenommen und geglaubt, sondern sogar im voraus erraten? Vielleicht doch, weil es mein eigener war? Und warum hatte ich Hermine gerade in dem Augenblick umgebracht, wo ich sie nackt in den Armen eines andern fand? Allwissend und voll Spott klang Mozarts lautloses Lachen.

»Harry«, sagte er, »Sie sind ein Spaßvogel. Sollte wirklich dieses schöne Mädchen von Ihnen nichts anderes zu wünschen gehabt haben als einen Messerstich? Machen Sie das einem andern weis! Na, wenigstens haben Sie brav zugestochen, das arme Kind ist mausetot. Es wäre nun vielleicht an der Zeit, daß Sie sich die Folgen Ihrer Galanterie gegen diese Dame klarmachen. Oder sollten Sie sich um die Folgen drücken wollen?«

»Nein«, schrie ich, »verstehen Sie denn gar nicht? Ich mich um die Folgen drücken! Ich begehre ja nichts anderes als zu büßen, zu büßen, zu büßen, den Kopf unters Beil zu legen und mich strafen und vernichten zu lassen.«

Unerträglich spöttisch sah Mozart mich an.

»Wie pathetisch Sie immer sind! Aber Sie werden schon noch Humor lernen, Harry. Humor ist immer Galgenhumor, und nötigenfalls lernen Sie ihn eben am Galgen. Sind Sie dazu bereit? Ja? Gut, dann gehen Sie zum Staatsanwalt, und lassen Sie den ganzen humorlosen Apparat der Gerichtsmenschen über sich ergehen, bis zum kühlen Kopfabhacken in früher Morgenstunde im Gefängnishof. Sie sind also bereit dazu?«

Eine Inschrift blitzte plötzlich vor mir auf:

Harrys Hinrichtung

und ich nickte dazu mein Einverständnis. Ein kahler Hof zwischen vier Mauern mit kleinen vergitterten Fenstern, ein sauber hergerichtetes Fallbeil, ein Dutzend Herren in Talaren und Gehröcken, und inmitten stand ich fröstelnd in einer grauen Frühmorgenluft, das Herz zusammengezogen von jammervoller Bangigkeit, aber bereit und einverstanden. Auf Befehl trat ich vor, auf Befehl kniete ich nieder. Der Staatsanwalt nahm seine Mütze ab und räusperte sich, auch alle ändern Herren räusperten sich. Er hielt ein feierliches Papier vor sich entfaltet, daraus las er vor:

»Meine Herren, vor Ihnen steht Herr Haller, angeklagt und schuldig befunden des mutwilligen Mißbrauchs unsres magischen Theaters. Haller hat nicht nur die hohe Kunst beleidigt, indem er unsern schönen Bildersaal mit der sogenannten Wirklichkeit verwechselte und ein gespiegeltes Mädchen mit einem gespiegelten Messer totgestochen hat, er hat sich außerdem unsres Theaters humorloserweise als einer Selbstmordtechnik zu bedienen die Absicht gezeigt. Wir verurteilen infolgedessen den Haller zur Strafe des ewigen Lebens und zum zwölfstündigen Entzug der Eintrittsbewilligung in unser Theater. Auch kann dem Angeklagten die Strafe einmaligen Ausgelachtwerdens nicht erlassen werden. Meine Herren, stimmen Sie an: Eins – zwei – drei!«

Und auf drei stimmten sämtliche Anwesende mit tadellosem Einsatz ein Gelächter an, ein Gelächter im höheren Chor, ein furchtbares, für Menschen kaum erträgliches Gelächter des Jenseits.

Als ich wieder zu mir kam, saß Mozart neben mir wie zuvor, klopfte mir auf die Schultern und sagte: »Sie haben Ihr Urteil gehört. Sie werden sich also daran gewöhnen müssen, der Radiomusik des Lebens weiter zuzuhören. Es wird Ihnen guttun. Sie sind ungewöhnlich schwach begabt, lieber dummer Kerl, aber so allmählich werden Sie nun doch begriffen haben, was von Ihnen verlangt wird. Sie sollen lachen lernen, das wird von Ihnen verlangt. Sie sollen den Humor des Lebens, den Galgenhumor dieses Lebens erfassen. Aber natürlich sind Sie zu allem in der Welt bereit, nur nicht zu dem, was von Ihnen verlangt wird! Sie sind bereit, Mädchen totzustechen, Sie sind bereit, sich feierlich hinrichten zu lassen, Sie wären gewiß auch bereit, hundert Jahre lang sich zu kasteien und zu geißeln. Oder nicht?«

»O ja, von Herzen bereit«, rief ich in meinem Elend.

»Natürlich! Für jede dumme und humorlose Veranstaltung sind Sie zu haben, Sie großzügiger Herr, für alles, was pathetisch und witzlos ist! Nun, ich aber bin dafür nicht zu haben, ich gebe Ihnen für Ihre ganze romantische Buße keinen Groschen. Sie wollen hingerichtet werden, Sie wollen den Kopf abgehackt kriegen, Sie Berserker! Für dieses blöde Ideal würden Sie noch zehn Totschläge begehen. Zum Teufel, aber leben sollen Sie ja gerade! Es geschähe Ihnen recht, wenn Sie zur schwersten Strafe verurteilt würden.«

»Oh, und was für eine Strafe wäre das?«

»Wir könnten zum Beispiel das Mädchen wieder lebendig machen und Sie mit ihr verheiraten.«

»Nein, dazu wäre ich nicht bereit. Es gäbe ein Unglück.«

»Als ob es nicht schon genug Unglück wäre, was Sie angerichtet haben! Aber mit Pathetik und den Totschlägen soll es jetzt ein Ende haben. Nehmen Sie endlich Vernunft an! Sie sollen leben, und Sie sollen das Lachen lernen. Sie sollen die verfluchte Radiomusik des Lebens anhören lernen, sollen den Geist hinter ihr verehren, sollen über den Klimbim in ihr lachen lernen. Fertig, mehr wird von Ihnen nicht verlangt.«

Leise, hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, fragte ich: »Und wenn ich mich weigere? Und wenn ich Ihnen, Herr Mozart, das Recht abspreche, über den Steppenwolf zu verfügen und in sein Schicksal einzugreifen?«

»Dann«, sagte Mozart friedlich, »würde ich dir vorschlagen, noch eine von meinen hübschen Zigaretten zu rauchen.« Und indes er es sagte und eine Zigarette aus der Westentasche zauberte, die er mir anbot, war er plötzlich nicht Mozart mehr, sondern blickte warm aus dunklen Exotenaugen, und war mein Freund Pablo, und glich auch wie ein Zwillingsbruder dem Mann, der mich das Schachspiel mit den Figürchen gelehrt hatte.

»Pablo!« rief ich aufzuckend. »Pablo, wo sind wir?«

Pablo gab mir die Zigarette und Feuer dazu.

»Wir sind«, lächelte er, »in meinem magischen Theater, und falls du den Tango lernen oder General werden oder dich mit Alexander dem Großen unterhalten willst, so steht das alles nächstes Mal zu deiner Verfügung. Aber ich muß sagen, Harry, du hast mich ein wenig enttäuscht. Du hast dich da arg vergessen, du hast den Humor meines kleinen Theaters durchbrochen und eine Schweinerei angerichtet, du hast mit Messern gestochen und unsre hübsche Bilderwelt mit Wirklichkeitsflecken besudelt. Das war nicht hübsch von dir. Hoffentlich hast du es wenigstens aus Eifersucht getan, als du Hermine und mich da liegen sähest. Mit dieser Figur hast du leider nicht umzugehen verstanden – ich glaubte, du habest das Spiel besser gelernt. Nun, es läßt sich korrigieren.«

Er nahm Hermine, die in seinen Fingern alsbald zum Spielfigürchen verzwergte, und steckte sie in ebenjene Westentasche, aus der er vorher die Zigarette genommen hatte. Angenehm duftete der süße schwere Rauch, ich fühlte mich ausgehöhlt und bereit, ein Jahr lang zu schlafen. Oh, ich begriff alles, begriff Pablo, begriff Mozart, hörte irgendwo hinter mir sein furchtbares Lachen, wußte alle hunderttausend Figuren des Lebensspiels in meiner Tasche, ahnte erschüttert den Sinn, war gewillt, das Spiel nochmals zu beginnen, seine Qualen nochmals zu kosten, vor seinem Unsinn nochmals zu schaudern, die Hölle meines Innern nochmals und noch oft zu durchwandern.

Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen. Pablo wartete auf mich. Mozart wartete auf mich.

Nachwort des Verfassers

Dichtungen können auf manche Arten verstanden und mißverstanden werden. In den meisten Fällen ist der Verfasser einer Dichtung nicht die Instanz, welcher eine Entscheidung darüber zusteht, wo bei deren Lesern das Verständnis aufhöre und das Mißverstehen beginne. Schon mancher Autor hat Leser gefunden, denen sein Werk durchsichtiger war als ihm selbst. Außerdem können ja auch Mißverständnisse unter Umständen fruchtbar sein.

Immerhin scheint mir der »Steppenwolf« dasjenige meiner Bücher zu sein, das öfter und heftiger als irgendein anderes mißverstanden wurde, und häufig waren es gerade die zustimmenden, ja die begeisterten Leser, nicht etwa die ablehnenden, die sich über das Buch auf eine mich befremdende Art geäußert haben. Zum Teil, aber nur zum Teil, kommt die Häufigkeit dieser Fälle davon her, daß dieses Buch, von einem Fünfzigjährigen geschrieben und von den Problemen eben dieses Alters handelnd, sehr häufig ganz jungen Lesern in die Hände fiel.

Aber auch unter den Lesern meines Alters fand ich häufig solche, denen mein Buch zwar Eindruck machte, denen aber merkwürdigerweise nur die Hälfte seiner Inhalte sichtbar wurde. Diese Leser haben, so scheint mir, im Steppenwolf sich selber wiedergefunden, haben sich mit ihm identifiziert, seine Leiden und Träume mitgelitten und mitgeträumt, und haben darüber ganz übersehen, daß das Buch auch noch von anderem weiß und spricht als von Harry Haller und seinen Schwierigkeiten, daß über dem Steppenwolf und seinem problematischen Leben sich eine zweite, höhere, unvergängliche Welt erhebt und daß der »Traktat« und alle jene Stellen des Buches, welche vom Geist, von der Kunst und von den »Unsterblichen« handeln, der Leidenswelt des Steppenwolfes eine positive, heitere, überpersönliche und überzeitliche Glaubenswelt gegenüberstellen, daß das Buch zwar von Leiden und Nöten berichtet, aber keineswegs das Buch eines Verzweifelten ist, sondern das eines Gläubigen.

Ich kann und mag natürlich den Lesern nicht vorschreiben, wie sie meine Erzählung zu verstehen haben. Möge jeder aus ihr machen, was ihm entspricht und dienlich ist! Aber es wäre mir doch lieb, wenn viele von ihnen merken würden, daß die Geschichte des Steppenwolfes zwar eine Krankheit und Krisis darstellt, aber nicht eine, die zum Tode führt, nicht einen Untergang, sondern das Gegenteiclass="underline" eine Heilung.

1942